Greta Thunberg versteht ihr Buch als Werkzeug für alle, die sich für die Rettung des Planeten einsetzen.

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Die bemerkenswerte klimatische Stabilität des Holozäns ermöglichte es unserer Spezies – dem Homo sapiens –, von der Lebensweise der Jäger und Sammler zu der von Bauern überzugehen, die Land kultivierten. Das Holozän begann vor etwa 11.700 Jahren, als die letzte Eiszeit endete. In dieser relativ kurzen Zeitspanne haben wir unsere Welt – verstanden als die der Menschen – völlig verändert. "Unsere Welt", verstanden als eine Welt, die einer bestimmten Art gehört – und diese Spezies sind wir.

Industrielle Revolutin und Platikmeere

Wir entwickelten die Landwirtschaft, bauten Häuser, schufen Sprachen, Mathematik, Schrift, Werkzeuge, Währungen, Religionen, Waffen, Kunst und hierarchische Strukturen. Die menschliche Gesellschaft breitete sich aus erdgeschichtlicher Sicht mit unglaublicher Geschwindigkeit aus. Dann kam die Industrielle Revolution, die den Beginn der "Großen Beschleunigung" markierte. Von einer unglaublich schnellen Entwicklung gingen wir zu etwas anderem – etwas Atemberaubendem – über.

Würden wir die Weltgeschichte in die Zeitspanne von einem Jahr übersetzen, hätte die Industrielle Revolution am Silvesterabend etwa eineinhalb Sekunden vor Mitternacht stattgefunden. Seit der Entstehung der menschlichen Zivilisation haben wir die Hälfte der Bäume auf der Erde gefällt, mehr als zwei Drittel der Wildtiere und Wildpflanzen ausgerottet, die Meere mit Plastik gefüllt und ein potenzielles massenhaftes Artensterben und eine Klimakatastrophe in Gang gesetzt. Wir haben angefangen, die Systeme zu destabilisieren, auf denen das Leben basiert und auf die wir alle angewiesen sind. Mit anderen Worten: Wir sägen den Ast ab, auf dem wir leben.

Unvorstellbares wird selbstverständlich

Aber die meisten von uns sind sich noch immer nicht darüber im Klaren, was vorgeht, und viele kümmert es offenbar auch gar nicht. Das liegt an diversen Faktoren, von denen dieses Buch viele behandelt. Einer dieser Faktoren, das sogenannte "Shifting-Baseline-Syndrom" oder die "Generationenamnesie", bezeichnet den Umstand, dass wir uns an Neues gewöhnen und anfangen, die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Für meine Urgroßeltern wäre ein achtspuriges Autobahnkreuz vermutlich unvorstellbar gewesen, aber für meine Generation ist es etwas völlig Normales. Manchen von uns erscheint es sogar als etwas Natürliches, Sicheres und Beruhigendes, je nach den Umständen. Die fernen Lichter einer Megacity, eine Ölraffinerie, die neben einer dunklen Fernstraße glitzert, und die grell beleuchteten Landebahnen eines Flugplatzes, die den Nachthimmel erhellen, sind für uns ein so gewohnter Anblick, dass viele ihr Fehlen als seltsam empfinden würden.

Das Gleiche gilt für den Trost, den manche unter anderem aus überzogenem Konsum beziehen. Das einst Unvorstellbare kann sehr schnell zu einem selbstverständlichen – und sogar unersetzlichen – Bestandteil unseres Alltagslebens werden. Je weiter wir uns von der Natur entfernen, umso schwerer fällt es uns, uns daran zu erinnern, dass wir ein Teil von ihr sind. Wir stehen nicht über den anderen Elementen, die diese Erde ausmachen. Wir sind von ihnen abhängig. Der Planet gehört uns ebenso wenig wie den Fröschen, Käfern, Hirschen oder Rhinozerossen. Es ist nicht unsere Welt, wie Peter Brannen uns in seinem Kapitel erinnert.

Eine Minderheit hat das verursacht

Die schnell eskalierende Klima- und Ökologiekrise ist eine globale Krise: Sie betrifft alle Pflanzen und Lebewesen. Zu behaupten, die gesamte Menschheit sei dafür verantwortlich, ist jedoch sehr weit von der Wahrheit entfernt. Die meisten Menschen leben gegenwärtig durchaus innerhalb der von der Erde gesetzten Grenzen. Lediglich eine Minderheit von uns hat diese Krise verursacht und treibt sie weiter voran. Aus diesem Grund ist die gängige Behauptung: "Es gibt zu viele Menschen", äußerst irreführend. Die Weltbevölkerung spielt zwar eine Rolle, aber nicht alle Menschen verursachen Emissionen und verbrauchen die Ressourcen der Erde, sondern nur manche Menschen – es sind die Gewohnheiten und das Verhalten mancher Menschen in Verbindung mit unseren Wirtschaftsstrukturen, die diese Katastrophe verursachen.

Die Industrielle Revolution, angetrieben von Sklaverei und Kolonialisierung, brachte dem globalen Norden unvorstellbaren Reichtum, besonders einer kleinen Minderheit der dort lebenden Menschen. Diese extreme Ungerechtigkeit ist die Grundlage, auf der unsere modernen Gesellschaften aufgebaut sind. Das ist der Kern des Problems: das Leiden vieler, die zum Nutzen weniger bezahlen. Der Reichtum dieser wenigen hatte einen Preis: Unterdrückung, Völkermord, ökologische Zerstörung und klimatische Instabilität. Die Rechnung für diese Zerstörung ist noch nicht beglichen. Tatsächlich ist sie noch nicht einmal zusammengerechnet worden.

Eine 67-prozentige Chance

Warum spielt das eine Rolle? Warum sollten wir in einer solchen Notlage nicht Vergangenes vergangen sein lassen und lieber nach Lösungen für unsere gegenwärtigen Probleme suchen? Warum sollten wir die Dinge komplizierter machen, indem wir die schwierigsten Probleme der Menschheitsgeschichte zur Sprache bringen? Die Antwort lautet, dass diese Krise nicht nur hier und jetzt stattfindet. Vielmehr hat die Klima- und Ökologiekrise kumulativ entwickelt und richt letztlich zurück bis in die Kolonialisierung und darüber hinaus. Es ist eine Krise, die auf der Vorstellung beruht, manche seien mehr wert als andere und hätten daher das Recht, anderen Menschen Land, Ressourcen, zukünftige Lebensbedingungen und sogar das Leben zu nehmen.

Und das geschieht weiterhin. Ungefähr 90 Prozent der CO2-Emissionen, die unser gesamtes Kohlenstoffbudget ausmachen, sind bereits freigesetzt worden – das Kohlenstoffbudget ist die maximale Menge des Kohlendioxids, das wir kollektiv freisetzen dürfen, damit die Welt eine 67-prozentige Chance hat, die Erderwärmung unterhalb von 1,5 Grad Celsius zu halten. Dieses Kohlendioxid ist bereits in die Atmosphäre oder in die Meere gepumpt worden, bleibt dort und stört das Gleichgewicht der Biosphäre für viele Jahrhunderte – ganz zu schweigen von der Gefahr, dass wir in dieser Zeit zahlreiche Kipppunkte erreichen und Rückkopplungseffekte auslösen.

Kohlendioxidbudget fast aufgbraucht

Das verbleibende Kohlendioxidbudget, das wir noch freisetzen können, ohne die Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu verfehlen, ist nahezu aufgebraucht – aber viele Länder mit geringem und mittlerem Einkommen müssen erst noch die Infrastruktur aufbauen, auf der Wohlstand und Wohlergehen der einkommensstärkeren Länder basieren, und das erfordert beträchtliche CO2-Emissionen. Es dürfte auf der Hand liegen, dass das bereits zu 90 Prozent freigesetzte CO2 im Zentrum unserer Klimaverhandlungen stehen müsste oder zumindest gewisse Auswirkungen auf den globalen Klimadiskurs haben sollte.

Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Die Länder des globalen Nordens ignorieren unsere historische Schuld – neben vielen anderen wichtigen Aspekten – völlig.Manche argumentieren, das alles sei vor so langer Zeit passiert, die damals herrschenden Menschen seien sich der Probleme nicht bewusst gewesen, als sie unsere Energiesysteme aufbauten und mit der Massenproduktion all der Dinge anfingen, die wir konsumieren. Aber sie waren sich dessen bewusst, wie Naomi Oreskes in ihrem Beitrag zeigt.

Greta Thunberg, "Das Klima-Buch. Der aktuellste Stand der Wissenschaft unter Mitarbeit der weltweit führenden Expert:innen". Übersetzt von Michael Bischoff und Ulrike Bischoff. € 37,10 / 512 Seiten. S. Fischer, 2022
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Schwarz-Weiß-Fragen

Es gibt eindeutige Belege, dass große Erdölkonzerne wie Shell und Exxon Mobil seit mindestens vier Jahrzehnten über die Folgen ihres Handelns Bescheid wussten. Das gilt auch für die Nationen der Welt, wie Michael Oppenheimer erklärt. Zudem ist es eine Tatsache, dass mehr als fünfzig Prozent aller anthropogenen von Menschen verursachten) Kohlendioxidemissionen freigesetzt wurden, nachdem das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC, Weltklimarat) gegründet wurde und die Vereinten Nationen 1992 ihre Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro veranstalteten. Sie wussten es also. Die Welt wusste Bescheid.

Es läuft auf die Schwarz-Weiß-Fragen hinaus. Manche sagen, es gebe viele Schattierungen dazwischen, die Dinge seien kompliziert und die Antworten niemals ein- fach. Aber ich sage es noch einmal: Es gibt viele Sachverhalte, die sind schwarz oder weiß. Entweder man stürzt von einer Klippe oder nicht. Entweder wir leben, oder wir sind tot. Entweder alle Bürgerinnen und Bürger dürfen wählen oder nicht. Entweder Frauen haben die gleichen Rechte wie Männer oder nicht. Entweder wir bleiben unterhalb der im Pariser Abkommen festgelegten Zielwerte und wenden damit die Gefahr ab, irreversible Veränderungen in Gang zu setzen, die sich menschlicher Kontrolle entziehen, oder nicht.

Notwendigkeit eines Wandels

Diese Fragen sind so schwarz oder weiß, wie es nur geht. Wenn es um die Klima- und Ökologiekrise geht, liegen uns zuverlässige wissenschaftliche Belege für die Notwendigkeit eines Wandels vor. Das Problem ist, dass sich die derzeit am besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse nach sämtlichen Belegen auf einem Kollisionskurs zu unserem gegenwärtigen Wirtschaftssystem und zu der Lebensweise befinden, auf die viele Menschen im globalen Norden einen Anspruch zu haben glauben. Beschränkungen und Restriktionen stehen nicht gerade in Einklang mit Neoliberalismus oder moderner westlicher Kultur. Man braucht sich nur anzusehen, wie manche Teile der Welt auf die Einschränkungen während der Covid-19-Pandemie reagierten.

Selbstverständlich lässt sich argumentieren, es gebe unterschiedliche wissenschaftliche Ansichten; nicht alle Wissenschafterinnen und Wissenschafter seien einer Meinung. Das stimmt: Sie verbringen viel Zeit damit, über verschiedene Aspekte ihrer Forschungsergebnisse zu diskutieren – so funktioniert Wissenschaft. Dieses Argument lässt sich zu unzähligen Diskussionsthemen anbringen, allerdings nicht mehr in Bezug auf die Klimakrise. Dieser Zug ist abgefahren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind so zuverlässig, wie sie nur sein können.

Was bleibt, ist weitgehend Taktik. Wie soll man die Information verpacken, formulieren und vermitteln? Wie (ver)störend wagen Wissenschafterinnen und Wissenschafter aufzutreten? Sollten sie den unzulänglichen Vorschlägen der Politiker Beifall zollen, weil sie immerhin besser sind als nichts und weil sie dadurch vielleicht auch einen Platz am Tisch gewinnen – oder behalten – können? Oder sollten sie riskieren, als alarmistisch abgetan zu werden, und sagen, wie es ist, auch wenn das dazu führen könnte, dass sich mehr Menschen geschlagen geben und in Apathie verfallen? Sollten sie eine positive, hoffnungsvolle Haltung nach dem Motto "Das Glas ist halb voll" einnehmen oder auf jegliche Kommunikationstaktik verzichten und sich lediglich darauf konzentrieren, die Fakten zu liefern? Oder vielleicht ein bisschen von beidem?

Eine zutiefst spaltende Frage

Eine zutiefst spaltende Frage ist heutzutage, ob man Gleichheit und historische Emissionen in die Diskussionen über die erforderlichen Maßnahmen gegen die Umweltkrise einbeziehen sollte. Da solche Zahlen aus unseren internationalen Rahmenwerken herausverhandelt wurden, ist es sicher verlockend, sie zu ignorieren, weil sie eine düstere Botschaft noch trostloser erscheinen lassen. Allerdings lässt es diejenigen, die einen ganzheitlichen Ansatz vertreten und sie einzubeziehen versuchen, noch alarmistischer erscheinen als ihre Kolleginnen und Kollegen, und das ist ein großes Problem. So erscheint die Möglichkeit, dass Länder des globalen Nordens wie Spanien, die USA oder Frankreich bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen, völlig unzulänglich, wenn man den Gleichheitsaspekt und die historischen Emissionen berücksichtigt.

Eine amerikanische Wissenschafterin, die ein breites heimisches Publikum ansprechen will, dürfte aber wohl kein sonderliches Interesse daran haben, die ganze Netto-Null-Idee bis 2050 als völlig unzureichend abzutun. In der Debatte in den USA gilt die Vorstellung, innerhalb von drei Jahrzehnten auf Netto-NullEmissionen zu kommen, schon als extrem radikal.

Instikte halten nicht mehr mit

Und diese Taktik ergibt durchaus einen Sinn. Das Problem ist jedoch, dass wir Gleichheit und historische Emissionen einbeziehen müssen, wenn das Pariser Abkommen in globalem Maßstab funktionieren soll. Daran geht kein Weg vorbei. Und es ist ja nicht so, als hätten wir Zeit, die Gespräche langsam voranzubringen.

Wir haben es seit unseren Jäger- und Sammler-Vorfahren weit gebracht. Aber unsere Instinkte hatten nicht genügend Zeit, Schritt zu halten. Sie funktionieren immer noch weitgehend so wie vor fünfzigtausend Jahren, in einer anderen Welt, lange bevor wir Landwirtschaft, Häuser, Netflix und Supermärkte entwickelt haben. Wir sind für eine völlig andere Wirklichkeit gemacht, und unserem Gehirn fällt es schwer, auf Bedrohungen zu reagieren, die für viele von uns nicht unmittelbar und plötzlich auftauchen, Gefahren wie die Klima- und Ökologiekrise. Gefahren, die wir nicht klar erkennen, weil sie zu komplex, zu langsam und zu weit entfernt sind. Aus einer größeren, erdgeschichtlichen Perspektive hat sich die Entwicklung des Homo sapiens mit Lichtgeschwindigkeit vollzogen.

Industriellen Revolution auf instabilem Boden

Rächt sich das nun? War unser Fundament von Anfang an zigtausend Jahre vor der Industriellen Revolution auf instabilem Boden gebaut? Waren wir als Spezies zu begabt? Überlegener, als es gut für uns war? Oder können wir uns ändern? Sind wir imstande, unser Können, unser Wissen und unsere Technologie für einen Kulturwandel einzusetzen, der uns dazu bewegt, uns rechtzeitig zu verändern, um eine Klima- und Umweltkatastrophe abzuwenden? Dazu sind wir eindeutig in der Lage. Ob wir es auch tun, liegt ganz an uns. (Greta Thunberg, 23.10.2022)