Ich bin bei Frankel’s Delicatessen reingestolpert, also wirklich reingestolpert, über den erhöhten Bordstein, den ich nicht gesehen habe, an der Kreuzung Manhattan Ave und Bedford Ave, Williamsburg, Brooklyn, New York, am heißesten Tag des Jahres, einem Samstag, und heiße Tage in New York sind wirklich heiße Tage. Ich bin also über den Bordstein gestolpert, über ein Bodengitter der Subway auf dem Bürgersteig getaumelt, und die Subwayluft der Grünen Linie G von unten ist nochmal zwei, drei, vier Grad heißer als ohnehin schon alles andere. Ich drücke die Glastüre des Ladens auf, den hier eigentlich alle kennen, weil der Jewish Deli einfach schon immer da war, weil die Buchstaben Frankel’s nachts die ganze Kreuzung rot anleuchten.

Streetstyle ist mittlerweile ein von Influencern und Labels dominierter Geschäftszweig. Der Fotograf Johnny Cirillo ist gerade sehr angesagt – weil seine Arbeit dafür steht, was Straßenmodefotografie sein soll: Abbild unbekannter Modefans.
Johnny Cirillo

Ich drücke die Glastüre auf, sofort zwanzig Grad kälter, gesprenkelter Betonboden, ein Verkäufer spielt mit einem Kugelschreiber. Über ihm hängt eine Tafel mit allen koscheren Gerichten, Süßspeisen, Rugelach, Babka, ich gehe an die Theke, der Verkäufer fragt: "Was kann ich dir Gutes tun, mein Freund?" Ich stammle: "Eigentlich ... eigentlich ... brauche ich nur einen Bogen des Papiers, in das ihr eure Brote einwickelt." "Nur das Papier?", fragt der Verkäufer. Er lacht. "Sonst noch was, mein Freund?" Ich zeige auf den Kugelschreiber. "Darf ich mir den leihen?"

Irgendwo, ungefähr

Ich habe mein iPhone im Hotel gelassen, wollte die Stadt mal ohne Google Maps und Instagram kennenlernen, herumtreiben, fremde Menschen ansprechen – außerdem betrug meine aktuelle Handyrechnung 550 Euro, 94 Cent, aber das muss ja niemand wissen. Ich falte das Frankel’s-Papier auf und schreibe auf die unbeschichtete Seite: Williamsburg, NYC. Ich zeichne die Kreuzung auf, verlängere die Bedford Ave bis etwa dahin, wo ich die Williamsburg-Brücke vermute, die über den East River nach Lower Manhattan führt.

Johnny Cirillo im Gespräch

Irgendwo dort bin ich mit Johnny Cirillo verabredet, weil er davon am meisten Ahnung hat, vom Herumtreiben und Fremde-Menschen-Ansprechen. Alle hier kennen ihn nur als "den Typ von Watching New York". Seit acht Jahren fotografiert er die besten Outfits der Menschen und teilt sie auf Instagram mit einem Millionenpublikum. Ich habe mit Cirillo einen vagen Ort und eine ungefähre Zeit vereinbart. "Wir werden uns schon über den Weg laufen", hat er gesagt, "New York ist eine kleine Stadt."

Er werde heute Nachmittag auf der Höhe von Joe’s Pizza abhängen. Es soll eine der aufregendsten Kreuzungen der Stadt sein, zwei U-Bahn-Stationen sind in direkter Nähe, die Mieten günstiger als in Manhattan, das Viertel voll mit Bars und Cafés. In den 1990er- und 2000er-Jahren war Williamsburg der "place to be", Clubs zogen hierher um, Künstler verlagerten Studios von SoHo nach Brooklyn. Dieser Hype ist vorbei, die Straßen sind schon lange kein Geheimtipp mehr. Doch Cirillo, so hat er mir angekündigt, ist sicher: Nirgends sei der Streetstyle so gut wie hier. Und nirgends komme man so gut mit den Menschen ins Gespräch – vom Oberflächlichsten, der Kleidung, zu den tiefsten Unterhaltungen.

Ab wann ist es Style?

Ich erkenne Cirillo mit seiner schweren Kamera sofort, gehe aber nicht zu ihm hin. Ich will beobachten, wie er sich bewegt, wie er mitschwimmt in der Masse, wie er dagegenrudert. Wie er Menschen anspricht. Ich will lernen. Ich markiere Joe’s Pizza auf meinem Frankel’s-Papier und hocke mich mit einem Slice an die Hausmauer. Cirillo sucht die Masse ab: Er sieht eine Frau im schwarzen Kleid mit weißer Handtasche – und spricht sie nicht an. Eine Frau im grünen Kleid, mit orangen Schuhen und orangen Haaren – ebenso nicht. Schließlich, als ein Jugendlicher mit lederner Cowboyhose, hohen Stiefeln, weißem Tanktop und einem Tuch unter der Baseballkappe vorbeischlendert, positioniert er sich, hebt die Kamera, Autofokus, drückt viermal ab, das war’s.

Dann ruft er ihm nach: "Hey mein Freund, hast du mal eine Sekunde? Ich habe dich aus der Ferne fotografiert, weil ich deinen Style liebe." – "Danke Mann", sagt der Junge und sieht ihn an, "das bedeutet mir viel an so einem harten Tag." – "Du hattest einen harten Tag?", fragt Cirillo. "Ja, das Leben spielt gerade etwas verrückt." Cirillo hebt seine Baseballkappe und kratzt sich am Bart. "Alles Gute! Wir sehen uns bestimmt wieder", ruft Cirillo ihm nach, "New York ist eine kleine Stadt."

Ein wenig Magie

Ich stelle mich zu Cirillo. Er erschrickt etwas, als ich mich vorstelle. "Sorry, wenn das creepy ist, dass ich dich beobachtet habe", sage ich, "aber du kannst mir das fast nicht zum Vorwurf machen, dachte ich, schließlich machst du das täglich." Cirillo hört mir zu, doch seine Augen sind schon wieder auf der Straße. "Alles gut", sagt er, "was du gerade beobachtet hast, wollte ich dir eigentlich beibringen – hier sind wir Amerikaner euch Europäern nämlich voraus."

Cirillo bricht ab, zückt seine Kamera. Eine etwa dreißig Jahre alte Frau mit schwarzem Hut und verspiegelter Sonnenbrille geht direkt auf ihn zu. Sie trägt einen glitzernden Rock und ein T-Shirt mit Marlboro-Logo, bloß steht stattdessen "Marlon Brando" dort. Klick, klick, "ich liebe deinen Style", sagt er, klick, klick. "Danke Darling", sagt die Frau, "darf ich die Fotos sehen?" – "Du kannst sie im Internet sehen, wenn das okay ist", sagt Cirillo. "Klar, easy", sagt die Marlon-Brando-Frau und geht weiter, Cirillo wendet sich mir zu. "Wo wir euch Europäern voraus sind, pass auf. Wir in New York haben begriffen: Das Leben ist kurz. Also sprich mit den Leuten. Wenn du interessiert bist, werden sie sich öffnen. Da ist es egal, ob du hier geboren bist oder nur zu Besuch. Versuche es. Es ist wie Magie."

Ich bin nicht ganz sicher. Klar, Johnny Cirillo kann das, weil er Cirillo ist. Aufgewachsen auf diesen Straßen, bester New Yorker Akzent, seine Kamera als Vermittlerin zwischen ihm und den Menschen. Ein schmächtiger Mann in enganliegenden schwarzen Kunstlederhosen kommt auf uns zu. Als er knapp vor uns ist, versuch ich es: "Ich liebe dein Outfit!" – "Danke", murmelt er und geht weiter. "Mhm", sage ich und schaue zu Cirillo. "Hat dir das Outfit wirklich gefallen?", fragt er. "Nein", sage ich. "Siehst du?", sagt Cirillo. "Das hat er gemerkt. Du musst immer ehrlich sein." Wir verabschieden uns, er muss weiterfischen, so nennt er es. "Die beste Tageszeit bricht gerade an, die Leute gehen raus – du sollst auch dein Glück versuchen, sprich jeden an, den du toll findest, und New York wird sich dir entfalten."

Hier bist du

Er nennt noch zwei Orte: den McGolrick-Park und den Domino-Park. Beide trage ich grob auf dem Frankel’s-Papier ein. Mit meinen Fingerkuppen versuche ich, die Distanz zwischen mir und den Parks zu schätzen. Ich halte die Karte gegen des Licht, um nicht geblendet zu werden, da entdecke ich einen jüngeren Mann, oversized Jeans und ein halboffenes Flanellhemd, in der Hand einen alten iPod. Ich will Cirillo holen, doch finde ihn nicht mehr – er fischt bereits woanders. Der Mann kommt näher, und als wir uns direkt gegenüberstehen, sage ich fast automatisch: "Ich liiieebe deinen Style!"

Er nimmt seine Ohrenstöpsel raus: "Danke! Ich bin Mick. Magst du mal fühlen?" Das Hemd ist samtig. "Yeah man", sagt er, "das ist mal ein guter Stoff, was?" Ich nicke mit großen Augen. "Ich habe es bei Awoke Vintage gebraucht gekauft", sagt er. "Kannst du mir den Laden auf der Karte zeigen?", sage ich und halte ihm das mittlerweile komplett zugeschmierte Papier hin. "Ich kann’s dir im echten Leben zeigen, mach mal die Augen auf", sagt er, hält mir seinen Zeigefinger ans Kinn und dreht meinen Kopf. Ich stand die ganze Zeit davor. "Awoke Vintage", steht in pinker Neonschrift am Fenster. Mick wühlt sich bereits durch die Ständer auf der Straße. "Hier ist bestimmt was dabei für dich", sagt er, "gerade siehst du ja eher aus wie so ein Trottel." Wir lachen.

Unter "Watching New York" zeigt Cirillo den Style der Städter.
Johnny Cirillo

Ich lade ihn gegenüber zum Kaffee ein. Er stürzt noch halb im Stehen seinen Iced Coffee runter, umarmt mich und geht, ein bisschen schaue ich ihm nach. Auf mein Frankel’s-Papier zeichne ich an die Straßenkreuzung ein Herz, doch es misslingt. Ich male es zu einem Punkt aus und schreibe dazu: YOU ARE HERE. Der Espresso ist schlecht, aber ich mag das. Ob wir uns wiedersehen? Bestimmt, New York ist eine kleine Stadt. (Gabriel Proedl, 23.10.2022)