"Musks Behauptung, er werde den 'öffentlichen Marktplatz' retten, ist in fundamentaler Weise falsch", sagt der Professor für Rechtswissenschaften an der New York Law School Richard K. Sherwin.

US-Milliardär Elon Musk macht mit unkonventionellen Vorschlägen von sich reden. Zuletzt etwa zum Krieg in der Ukraine.
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Im Jahr 1897 entsandte der US-amerikanische Zeitungsmagnat William Randolph Hearst den Illustrator Frederic Remington, um vor Ort über den Kubanischen Unabhängigkeitskrieg zu berichten. Als Remington ihm die Nachricht übermittelte, dass es "keinen Krieg geben werde", soll Hearst zurücktelegrafiert haben: "Sie liefern die Bilder, ich liefere den Krieg." Es handelt sich um eine alte Geschichte mit altbekannter Moral: Reichtum verleiht Macht, und Macht erzeugt das Verlangen nach mehr Macht.

"Quasi öffentlicher Marktplatz"

Die Massenkommunikationsmittel haben sich seit Hearsts Zeiten verändert, das Verhalten der Plutokraten jedoch nicht. Nachdem Elon Musk Twitter sehr effektiv zur Förderung seiner eigenen Unternehmen genutzt hat, weiß er, dass die Plattform bedeutenden Einfluss auf das öffentliche Leben der Gegenwart ausübt. Obwohl er mittlerweile versucht, sich aus der von ihm unterzeichneten Vereinbarung zum Kauf der Plattform herauszuwinden, hat er womöglich keine andere Wahl, als den Kauf durchzuziehen. In jedem Fall lohnt es sich, den von ihm genannten Grund für sein Interesse an der Übernahme des Unternehmens näher zu betrachten.

"In Anbetracht der Tatsache, dass Twitter quasi als öffentlicher Marktplatz dient", schrieb Musk am 26. März 2022 auf Twitter, "untergräbt die Nichteinhaltung der Grundsätze freier Meinungsäußerung die Demokratie in grundlegender Weise." Als er sich entschied, das Unternehmen zu kaufen, erklärte er etwa eine Woche später: "Die wirtschaftlichen Aspekte sind mir vollkommen egal (...) intuitiv hege ich das starke Gefühl, dass eine öffentliche Plattform, der maximales Vertrauen entgegengebracht wird und die alle einschließt, für die Zukunft der Zivilisation von enormer Bedeutung ist."

Selbsternannter Absolutist

Und so nimmt Musk als selbsternannter "Absolutist der freien Meinungsäußerung" für sich in Anspruch, den öffentlichen Marktplatz der Gesellschaft zu retten, indem er im Namen der Meinungsfreiheit die Richtlinien von Twitter aufhebt, die es Politikerinnen und Politikern wie dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump und der Abgeordneten zum US-Repräsentantenhaus Marjorie Taylor Greene verbieten, die Plattform zur Verbreitung ihrer nachweislichen Lügen und Fehlinformationen zu nutzen.

Musks Forderung nach "absoluter Meinungsfreiheit" mag abstrakt betrachtet einfach klingen, doch die Auswirkungen sind beunruhigend. Ginge es nach Musks Verständnis von Meinungsfreiheit, so wäre die Verteidigung der skrupellosen und rufschädigenden Lügen des Verschwörungstheoretikers Alex Jones durchaus legitim, darunter auch seine ungeheuerliche Behauptung, das Schulmassaker von Newtown im Jahr 2012, bei dem ein Bewaffneter 26 Menschen (darunter 20 Kinder zwischen sechs und sieben Jahren) ermordete, sei von "Krisendarstellern" inszeniert worden. Ein Gericht in Connecticut hat diese Auffassung jüngst zurückgewiesen und Jones zur Zahlung von fast einer Milliarde US-Dollar an die Familien der Opfer verurteilt.

Kein Freibrief

Das Gericht hat recht. Keine Freiheit ist absolut – weder die Freiheit der Meinungsäußerung noch die Handlungsfreiheit. Im Gegenteil: Sinnvolle Freiheit erfordert Grundregeln zur Beschränkung ihres Missbrauchs, denn andernfalls würde es sich um totes Recht handeln. Aus diesem Grund gibt es auf dem Markt für Waren und Dienstleistungen Gesetze gegen Betrug. Ohne derartige Beschränkungen würden sich falsche und irreführende Behauptungen ausbreiten und ein Misstrauen schüren, das unweigerlich zu Marktversagen führt.

Gleiches gilt für den Markt der Meinungen und Ideen. Meinungsfreiheit ist kein Freibrief dafür, sich absichtlich oder in rücksichtsloser Weise so zu äußern, dass andere geschädigt oder deren Eigentumsrechte gefährdet werden. Aus diesem Grund haben wir Gesetze gegen Verleumdung und die bewusste Zufügung von seelischem Leid – wie der Fall Alex Jones zeigt. Und es ist auch der Grund, warum es Gesetze gegen die Anstiftung zu Gewalt, Meineid und das Belügen der Behörden über kriminelle Aktivitäten gibt.

"Unerlässlich für die Gewährleistung freier und fairer Wahlen."

Manche Beschränkungen der Meinungsfreiheit werden auch als unerlässlich für die Gewährleistung freier und fairer Wahlen angesehen. In zahlreichen US-Bundesstaaten ist es verboten, bewusst Falschinformationen über Wahllokale, Wahlzeiten, die Echtheit der Stimmzettel oder Wahlanweisungen zu verbreiten. Ebenso wenig ist es legal, nachweislich falsche Behauptungen über den eigenen Status als Amtsinhaber oder die Verbindungen der Wahlkampagne aufzustellen. Und wie die strafrechtliche Verfolgung von Personen verdeutlicht, die an jenem gewalttätigen Mob teilnahmen, der am 6. Jänner 2021 den friedlichen Machtwechsel im US-Kapitol zu verhindern suchte, verleiht die Freiheit, unpopuläre politische Ansichten zu vertreten, kein Recht auf gewaltsamen Aufruhr.

Zersetzender Diskurs

Trotz der aktuellen Maßnahmen zur Moderation von Inhalten werden Social-Media-Plattformen mit Desinformation überschwemmt, die das öffentliche Vertrauen zersetzt und die wesentliche Funktion eines freien und informierten politischen Diskurses untergräbt. Bei dieser subversiven Taktik, die auf die Zerstörung des Markts für Meinungen und Ideen abzielt, handelt es sich tatsächlich um "Akte gegen die Redefreiheit". Ihr einziger Zweck besteht darin, den politischen Diskurs an sich zu entwerten.

Musk hat bereits einen Ausblick auf die Änderungen geboten, die er bei Twitter vornehmen könnte. Was mit der Wiederherstellung von Trumps Konto beginnt und diesem erlaubt, weitere nachweisliche Lügen über Wahlbetrug und seine politischen Gegnerinnen und Gegner zu verbreiten, könnte auf eine fortgesetzte Aushöhlung der Twitter-Standards hinauslaufen. Musks Behauptung, er werde den "öffentlichen Marktplatz" retten, ist in fundamentaler Weise falsch. Vielmehr wird er dessen Verfall vorantreiben, indem er die Überflutung dieses Marktplatzes mit toxischer Desinformation wie Deepfakes, abgeschmackter Propaganda, Gewaltaufrufen, unzulässiger Veröffentlichung personenbezogener Daten und anderen Formen illiberaler Akte gegen die Redefreiheit zulässt. (Richard K. Sherwin, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 22.10.2022)