Bei ihrer Abschiedsrede gab Truss Fehler zu. Trotz des historischen Umfragetiefs wird erneut ein Tory die Geschicke des Königreichs führen.

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Hektische Telefonate, geheime Absprachen, öffentliches Posieren – für die 357 Abgeordneten der konservativen Regierungspartei, allen voran die möglichen Kandidatinnen und Kandidaten für die Nachfolge der zurückgetretenen Premierministerin Liz Truss, dürfte das Wochenende kaum Erholung bringen. Am Freitag stand ein Thema im Mittelpunkt: Kommt es zum Comeback des erst aus dem Amt gescheuchten Ex-Premiers Boris Johnson?

Frage: Johnson, wirklich?

Antwort: Dass der Ex-Premier auf ein Comeback hofft, hat er mehrfach öffentlich angedeutet. "Hasta la vista, baby", lautete sein letzter Satz als Regierungschef im Unterhaus. Vor dem Amtssitz in der Downing Street belehrte der Altphilologe die Nation, er kehre nach getaner Arbeit "an den Pflug zurück" wie einst der römische Konsul Cincinnatus. Der Clou am historischen Vergleich: Den Staatsmann des fünften Jahrhunderts vor Christus holte der Senat gleich zweimal ins Amt des Diktators der Römischen Republik. Vor allem Liberalkonservative sehen die Diskussion um den Ex-Chef mit Grauen. Sie würden aus Protest gegen den als Lügner und Dilettanten aus dem Amt gejagten Ex-Premier ihre Mandate niederlegen und Nachwahlen erzwingen, gaben die Fraktionsveteranen Roger Gale und John Baron zu Protokoll. Die Befürworter des Blitz-Comebacks verweisen hingegen auf den hohen Wahlsieg von 2019. Freilich sind Johnsons Zustimmungswerte nach den vielfältigen Enthüllungen um Lockdown-Partys und dem Strafbefehl durch die Londoner Polizei in den Keller gerutscht. Anders als 2019 stehen die Konservativen nicht mehr einer zerstrittenen Labour Party unter ihrem damaligen, zur Führung komplett unfähigen Vorsitzenden Jeremy Corbyn gegenüber.

Frage: Will der Ex-Premier überhaupt?

Antwort: Das dürfte davon abhängen, wie stark die Unterstützung übers Wochenende anwächst. Dabei hatte er eigentlich verlauten lassen, es sei nun dringend Zeit zum "Heumachen": zum Geldverdienen. Schließlich muss der mindestens siebenfache Vater allerlei Mäuler stopfen und die Schulden vergangener Jahre abarbeiten. Als Festredner verdient der begnadete Witzeerzähler gern mal 250.000 Euro pro Abend, längst fällig wäre auch die Fertigstellung einer lang geplanten Shakespeare-Biografie. Von der Vakanz an der alten Wirkungsstätte hörte der 58-Jährige in einem Karibikurlaub. Zur Vorsicht mahnt jedenfalls Johnsons Biograf Andrew Gimson: Es sei "viel zu früh" für eine Rückkehr ins Amt, zu frisch seien die Wunden der Auseinandersetzungen, die zu seiner Vertreibung geführt hatten.

Frage: Wann stehen die Kandidaten fest?

Antwort: Um 14 Uhr Ortszeit am Montag müssen die hoffnungsvollen Anwärter nicht nur ihre Bereitschaft erklären, sondern auch 100 Anhänger aus der Fraktion um sich scharen. Mit diesem hohen Quorum schiebt der zuständige Fraktionsausschuss 1922 einem eitlen Schaulaufen den Riegel vor. Da die Tory-Fraktion derzeit 357 Mitglieder hat, treten also höchstens drei noch am selben Tag zum ersten, die beiden Bestplatzierten später zum zweiten Wahlgang an. Letzterer ist nur ein Hinweis fürs Parteivolk: Dem Statut zufolge müssen nämlich zwei Kandidaten den rund 180.000 Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt werden, diese soll diesmal online erfolgen. Insgeheim hoffen aber viele Tories, dass bei einem einigermaßen klaren Ergebnis diesmal der oder die Unterlegene die Kandidatur zurückzieht. Womöglich also schon am Montag, spätestens aber am Freitag soll Truss’ Nachfolger feststehen.

Frage: Wer kommt infrage?

Antwort: Alle Überlegungen konzentrieren sich auf Abgeordnete, die 2016 den EU-Austritt befürworteten. Ambitionen hegt gewiss Suella Braverman. Deren Rücktritt als Innenministerin hatte am Mittwoch den Prozess ausgelöst, der tags darauf dazu führte, dass Truss das Handtuch warf. Allerdings erscheint zweifelhaft, ob die 42-Jährige über den harten rechten Parteiflügel hinaus Anhänger für sich gewinnen kann. Rasch aus dem Rennen genommen haben sich frühere Parteigrößen wie der langjährige Minister Michael Gove sowie der seit einer Woche amtierende Finanzminister Jeremy Hunt, der Truss’ ökonomisches Experiment abgeräumt und damit die Finanzmärkte beruhigt hat. Als aussichtsreich werden neben Johnson der Ex-Banker Rishi Sunak und die frühere Verteidigungsministerin Penny Mordaunt gehandelt. Mordaunt hat am Freitagabend als erste ihre Kandidatur bestätigt.

Frage: Wer ist der Favorit?

Antwort: Eindeutig Sunak. Der 42-Jährige hat eine steile Karriere hinter sich: Erst seit 2015 Parlamentsabgeordneter, diente er seit 2019 im Kabinett und amtierte während der Pandemie als Schatzkanzler. Seine zunehmende Popularität, geschürt durch Hilfspakete für Bürger und Unternehmen, brachte ihm zunehmende Feindseligkeit von Johnsons Team ein. Auf deren Konto dürfte gehen, dass im Frühjahr dubiose Steuerdeals von Sunaks Frau, einer Milliarden-Erbin, an die Öffentlichkeit gerieten. Zudem musste der damalige Finanzminister wie auch sein Chef eine Corona-Strafe bezahlen, weil er unverhofft in die (verbotene) Party für Johnsons 56. Geburtstag in der Downing Street geraten war. Die Sunak-Anhänger in der Fraktion schwärmen von seiner Kompetenz in Finanzfragen. Allerdings gibt es auch viele Verächter, die dem kometenartigen Politikaufsteiger seinen "Verrat" an Johnson übelnehmen. Tatsächlich hatte Sunak durch seinen Rücktritt Johnsons Sturz beschleunigt, nicht aber ausgelöst. Als flügelübergreifende Figur taugt er jedenfalls nicht.

Frage: Und wer wäre das?

Antwort: Vielleicht Penny Mordaunt. Die für das Gesetzgebungsprogramm zuständige Ministerin war bei der Abstimmungsserie im Juli erst im letzten Durchgang hinter Sunak und Truss auf Platz drei gelandet. Die 49-Jährige gilt als versierte Debattenrednerin und hat viel Regierungserfahrung, allerdings bisher vor allem in zweiter Reihe. Kurzzeitig diente sie als Ministerin für Entwicklungshilfe, später für Verteidigung. Spuren hinterließ sie dabei kaum; im Ringen ums höchste Regierungsamt kamen zudem merkwürdig inhaltsleere Formulierungen aus einem Buch zum Vorschein, das die Abgeordnete mit einem PR-Experten gemeinsam geschrieben hatte. Anders als Johnson und Sunak polarisiert Mordaunt nicht, im Gegenteil: Ihre Anhänger betonten den Willen der Ministerin, die Vertreter aller wichtigen Parteiströmungen um sich zu versammeln.

Frage: Was macht die Opposition?

Antwort: Sie schaut dem Treiben ohnmächtig zu, wie das Wahlvolk auch. Tosenden Beifall löste am Donnerstagabend in der BBC-Diskussionssendung Question Time die Publikumsforderung nach Neuwahlen aus. Gefordert haben dies auch die Chefs der Opposition, allen voran Labour-Oppositionsführer Keir Starmer. Die Chancen auf einen vorgezogenen Urnengang tendieren aber gegen null: Die Konservativen verfügen im Unterhaus noch immer über eine solide Mehrheit, kaum ein Abgeordneter dürfte für den wahrscheinlichen Jobverlust stimmen. Die Umfragen prophezeien der Regierungspartei einen Absturz um 20 Prozentpunkte und 250 Sitze. Labour würde einen Erdrutschsieg feiern. (Sebastian Borger aus London, 21.10.2022)