Werfen Sie Ihre Maske noch nicht weg! Denn es gilt: Nach der Welle ist vor den nächsten Wellen. Zwar können wir mit Masken keine Welle mehr brechen, aber individuell kann man sich mit ihr wirksam schützen – indem man untertaucht und die Welle oben drüberrollen lässt.

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Der Molekularbiologe Ulrich Elling sieht uns vor der nächsten steilen Corona-Welle.

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Es ist eine trügerische Ruhe, die die aktuelle Pandemiesituation gerade ausstrahlt. Denn die eigentliche Herbstwelle steht unmittelbar bevor. Sie kommt nur wetterbedingt verspätet, vor allem wird sie durch neue Virusvarianten geprägt sein, warnen Experten aus Österreich sowie das deutsche Robert-Koch-Institut. In beiden Ländern breiten sich zunehmend neue Subtypen der Variante Omikron BA.5 aus. Auch die europäische Seuchenschutzbehörde ECDC warnte kürzlich davor.

"Die neuen Wellen wärmen sich gerade auf", erklärt Molekularbiologe Ulrich Elling im STANDARD-Interview. Er rechnet schon im November mit "recht steil steigenden Fallzahlen", denn: "Wir erwarten Virusvarianten, die nach jetziger Datenlage den Immunschutz noch deutlich besser umgehen." Immerhin, schwerere Krankheitsverläufe werden wohl nicht erwartet. Eine neue Linie ist in Afrika entstanden, eine andere aus Indien sorgt gerade in Asien für eine Covid-Welle. Laut Elling "scheint sie die Immunität am allerbesten zu umgehen" – und diese Virusvariante nimmt auch hierzulande schon zu.

Besonders ungünstig ist der zeitliche Zusammenfall der neuen Subtypen mit dem Beginn des kalten Wetters. Dessen enormer Einfluss auf die Inzidenz wurde in einer Studie von Komplexitätsforscher Peter Klimek von der Med-Uni Wien nachgewiesen.

Ein Gespräch mit Ulrich Elling über die aktuelle Corona-Lage im Allgemeinen und – anlässlich der Forderung nach einer "Öffnungsgarantie für Hochschulen" durch die liberale Studierendenfraktion der Neos in der ÖH – die Situation an den Hochschulen im Besonderen.

STANDARD: Wo stehen wir im Moment mit der Corona-Pandemie? Die letzte Welle, eigentlich eine "Zwischenwelle", ist gerade am Abflauen. War's das heuer, oder müssen wir uns auf noch eine Welle in diesem Jahr einstellen?

Elling: Wir haben jetzt eine Phase des Verschnaufens. Die neuen Wellen wärmen sich gerade auf. Sie brauchen noch ein paar Wochen, aber dann wird es weit aufwärtsgehen mit den Infektionszahlen. Wir erwarten Virusvarianten, die nach jetziger Datenlage den Immunschutz noch deutlich besser umgehen. Schwerere Krankheitsverläufe werden zum Glück wohl nicht erwartet.

STANDARD: Was lässt sich über die bislang letzte Welle sagen?

Elling: Wir wissen aus einer Studie von Komplexitätsforscher Peter Klimek und seinem Team, dass das Wetter einen enormen Einfluss auf die Inzidenz hat. Draußen ein Grad weniger bedeutet eine Steigerung der Reproduktionszahl R, die besagt, wie viele Menschen eine infizierte Person im Mittel ansteckt, um zwei Prozent. Immer, wenn die Schulen aufmachen, gibt es ein sprunghaftes Ansteigen der Kontakte. Die Kinder sind in der Schule, die Eltern in der Arbeit. Darum gibt es im September gern eine Welle. Heuer hatten wir einen eher regnerischen September, und danach war es wieder trocken und sonnig. Das ist ein Grund dafür, warum wir jetzt eine Pause haben. Der zweite Grund ist: BA.5 ist im Grunde genommen "fertig". Wir können davon ausgehen, dass wir die BA.5-Fälle um bis das Dreifache unterschätzt haben – aufgrund der wenigen Tests wurden viele Infektionen nie registriert. So ist mit über zwei Millionen BA.5-Infektionen eine Durchseuchung in der Bevölkerung erreicht. Zwischen dem Öffnen der Schulen Anfang September und dem echten Beginn der Herbst-Winter-Welle ging sich also im Oktober eine Pause aus.

STANDARD: Wenn die BA.5-Variante also so gut wie alle erwischt hat, die zu erwischen waren, was kommt jetzt?

Elling: Im Moment nimmt BF.7 – das ist BA.5 mit einer Zusatzmutation – zu. Derzeit liegen wir mit BF.7 bei 25 Prozent. Von BF.7 erwarten wir in den unmittelbar nächsten Wochen ein Plateau, bevor die neuen Varianten übernehmen. Es gibt eine neue Linie, die in Afrika entstanden ist und die sich in Europa und in den USA extrem gut durchsetzt, BQ.1 und BQ1.1. Diese Linien liegen hierzulande zusammen aktuell bei etwa zwölf Prozent. Zwei weitere Linien aus Indien, BA.2.75 und BJ.1, nehmen glücklicherweise kaum zu. Sie haben sich aber gekreuzt – und eine neue Virusvariante ist entstanden: XBB. Die scheint die Immunität am allerbesten zu umgehen und sorgt im Moment gerade in Asien für eine Welle. Sie nimmt auch hierzulande schon zu, liegt aber noch bei etwa einem Prozent. Und dann gibt es noch viele weitere Linien, die wir beobachten, es wird immer unübersichtlicher.

STANDARD: Was heißt das für uns?

Elling: Die Immunität, die wir jetzt haben, schützt wohl kaum vor Ansteckung mit diesen allerneuesten Linien. BQ.1.1 wird im November sicherlich eine neue Welle starten. Damit fällt dieses Jahr der Beginn des kalten Wetters und das Eintreffen einer neuen Variante zeitlich zusammen. Klimeks Studie zum Wettereinfluss plus die Labordaten zur Immunschutzumgehung sind eine unerfreuliche Kombination. Ich erwarte deshalb recht steil steigende Fallzahlen. Ob eine Ansteckung mit BQ.1.1 vor einer Infektion mit XBB schützt, ob wir beide Varianten in einer parallelen Welle sehen werden oder kurz hintereinander oder ob die BQ.1.1-Welle die XBB-Welle verhindert, all das wissen wir noch nicht.

STANDARD: Was bedeutet diese Ausgangslage für die Pandemiepolitik? Vielerorts wird mit firmenintern verhängter Maskenpflicht auf die Infektionslage reagiert. Die Regierung hingegen hat erst vergangene Woche die bestehende Corona-Verordnung mit den aktuellen (Nicht-)Maßnahmen und der auf sehr wenige Bereiche beschränkten Maskenpflicht um drei Monate verlängert.

Elling: Es war klar, dass sich die BA.5-Welle in den Krankenhäusern "ausgeht", also zu keiner systemkritischen Überlastung führen würde. Die Politik hat gehofft, dass die Spitze der Welle die Krankenhäuser nicht überlastet – und sie hofft weiters, dass die BA.5-Welle eine gewisse Immunität für die neue Welle bringt. Mit zwei Millionen Infizierten, aber weit weniger Personen, die sich mit dem aktuellen Impfstoff geboostert haben, hofft man auf einen dämpfenden Effekt im Winter. Wie vorher besprochen, die aktuellen Labordaten legen aber leider nahe, dass der Schutz vor Ansteckung mit den neuen Varianten weit weniger effizient ist als erwartet. Darum bleibt die Maskenpflicht quasi noch im Köcher. Das Ministerium hebt sich die Maske als "Trumpf" auf. Wenn es drauf ankommt und die nächste Welle droht, noch höher zu steigen und die Krankenhäuser zu sehr zu belasten, wird man sie vermutlich ziehen. Ich halte es aber für problematisch, dass niemand aus der Regierung erklärt, was das Kalkül für diese Entscheidungen ist. Die Leute fühlen sich im Regen stehengelassen.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Masken überhaupt noch? Sind sie aus individueller Sicht wichtiger oder sinnvoller als aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive?

Elling: Zur Maskendebatte muss man wissen, dass ein Drittel der Ansteckungen im Haushalt passiert und ein weiteres Drittel in der Schule und im Beruf. In diesen Bereichen kann man Ansteckungen realistischerweise kaum verhindern. Das dritte Drittel ist der einzige Bereich, den man effektiv beeinflussen könnte, und das ist alles, was mit Freizeit zu tun hat. Ein Lockdown würde die Reproduktionszahl R um ein Drittel senken, aber der steht nicht mehr zur Debatte, er wäre unverhältnismäßig. Masken als einzige Maßnahmen und nur in gewissen Settings haben also einen minimalen Einfluss auf den R-Faktor. Außerdem tragen viele eh schon Maske, einige würden es sowieso nicht tun. Das bedeutet: Mit konsequentem Masketragen – wie auch immer man das durchsetzt – kann man nur die Spitze der Inzidenzkurve etwas abtragen. Das ist relevant, wenn eine Überlastung der Spitäler droht und auch wenn es in der kritischen Infrastruktur eng wird. Deshalb sind Masken am Arbeitsplatz auch sinnvoll, dann fallen Mitarbeiter einer Abteilung nicht gleichzeitig aus. Aber die Gesamtzahl an Infizierten ändert man mit Masken eigentlich kaum noch. Mit Masken können wir keine Wellen mehr brechen, sondern nur beeinflussen, wo in der Bevölkerung Infektionen stattfinden. Deshalb sind Masken am "Flaschenhals", wo alle Menschen durchmüssen, etwa im öffentlichen Verkehr oder im Spital, sinnvoll. Dort gäbe es sonst zu viele unsteuerbare Infektionen bezüglich Vulnerabilität. Aber ansonsten kann das jeder und jede für sich entscheiden, ob er oder sie sich individuell mit einer Maske schützen will.

STANDARD: Das heißt, mit Blick auf die große Welle habe ich eigentlich nur noch als Individuum eine Chance, mich vor ihr wegzuducken?

Elling: Ja. Wenn jetzt eine besonders große Welle kommt, dann ist das so, als würde man – mit Maske – untertauchen und die Welle darüberrollen lassen. Individuell kann ich abtauchen und die Welle auslassen, als ganze Gesellschaft nicht, zumindest nicht im Rahmen des jetzigen Umgangs mit Covid-19. Dazu gibt es übrigens eine sehr eindeutige Studie.

STANDARD: Welche Schlussfolgerung lässt sich daraus für die Hochschulen ableiten? Hätte eine Maskenpflicht dort einen sinnvollen Effekt? Hintergrund der Frage: Die Junos, die Studierendenvertretung der Neos, fordern gerade per Petition eine "Öffnungsgarantie für Hochschulen".

Elling: Wenn wir uns die Todesstatistiken ansehen, dann stirbt man in dem Alter an vielem, aber nicht an Covid. Das Long-Covid-Risiko betrifft natürlich auch diese Gruppe, aber Studierende hatten und haben wie Kinder tatsächlich das kleinste Risiko, aber sie haben eine wahnsinnige Bürde getragen in der Pandemie und werden den daraus resultierenden Schuldenberg erben. Ja, viele haben Bezugspersonen verloren, sind aber selber sehr selten zu Schaden gekommen. Es stellt sich viel eher die Frage, ob sie nicht die größeren Schäden durch verlorene Bildungschancen et cetera erlitten haben. Wir haben Schulen und Unis ja nie zugesperrt, um Kinder, Jugendliche und Studierenden zu schützen, sondern die Alten und Ungeimpften. Eine Maskenpflicht würde ich in Unis also nicht in Erwägung ziehen, individuell macht es aber wie überall Sinn, sich zu schützen. Leider sind die Vulnerablen und die Alten in einer offenen Gesellschaft aber schwierig schützbar, und wir unternehmen dahingehend auch zu wenig.

STANDARD: Was sagen Sie überhaupt zum Ruf nach einer "Öffnungsgarantie für Hochschulen" durch die Neos-Studierendenfraktion? Diese argumentieren, den Studierenden dürfe nicht wieder wegen des Virus oder vielleicht auch wegen der teuren Energiekosten die Präsenzlehre vorenthalten werden.

Elling: Ich verstehe sehr gut, dass die Studierenden wieder in Präsenz an der Universität studieren wollen. Aber eine Garantie auf zukünftige Ereignisse kann es nie, schon gar nicht in einer Pandemie geben. Wir stehen zwar vor einer steilen Welle, aber solange sich die Pathogenität nicht verändert, wird ein Schließen der Unis sicher nicht in Erwägung gezogen. Aber wer soll eine Garantie herausgeben, dass dieses Virus uns nicht irgendwann aufs Neue überrascht?

STANDARD: Was könnten neue Corona-Maßnahmen jetzt überhaupt leisten?

Elling: Wenn man ehrlich ist, dann werden wir Wellen nicht mehr durch Maßnahmen beenden, sondern nur durch Durchseuchung. Alle Omikron-Wellen endeten, als Herdenimmunität da war – durch die Geimpften und die Genesenen. Wir können mit unserer Politik und den verordneten Maßnahmen im Prinzip nur noch lenken, wo die Infektionen stattfinden, aber nicht mehr, wie viele Infektionen es gibt. Wir sehen zum Beispiel, dass die alten Menschen stark unterrepräsentiert sind bei den Infektionen – sie schützen sich also stark oder werden erfolgreich geschützt von ihrem Umfeld –, aber in den Spitälern sind fast alle Covid-Patientinnen und Covid-Patienten alte Menschen. Die Hospitalisierungs- und Todesfälle werden nicht durch die Gesamtzahl der Infizierten beeinflusst, sondern durch die Älteren und Vulnerablen. Diese zu schützen muss also unser gemeinsames Ziel sein. (Lisa Nimmervoll, 31.10.2022)