Der örtliche Abgeordnete hat gesprochen. Der Bürgermeister auch. Und die Ehefrau des Kandidaten. Nun müsste der Hauptredner an der Reihe sein. Doch wenn man es nicht besser wüsste, könnte man den 2,06 Meter großen Kerl, der auf die Bühne der Messehalle eilt, glatt für einen Roadie beim letzten Soundcheck vor einem Heavy-Metal-Konzert halten.

Hoodie, Tattoos und viel Bodenständigkeit: John Fetterman hat auch nach seinem Schlaganfall gute Chancen auf einen Senatssitz.
Foto: AP / Joe Lamberti

"Wooooo sind wir?", ruft der Kahlkopf mit Kinnbart ins Mikrofon. "York!", grölt die Menge zurück. "Meine Heimatstadt!", ruft der Hüne und strahlt. Über seinen Jeans trägt er einen Kapuzenpulli, dessen hochgeschobene Ärmel zwei große Tattoos auf den Unterarmen freilegen. "Meine Alten sind hier: Hallo Mom und Dad!", fährt der 53-Jährige fort. "Sie leben noch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin."

Spätestens jetzt dürfte jedem Besucher klar sein: Der Mann, dessen Namen in riesigen Lettern auf dem schwarzen Tourbus hinter dem Podium prangt, ist kein gewöhnlicher Senatskandidat. John Fetterman, den der britische "Guardian" einst den "coolsten Bürgermeister von Amerika" nannte, hat eher das Auftreten eines Polit-Rockers. Und das, obwohl der derzeitige Vizegouverneur von Pennsylvania im Mai von einem Schlaganfall buchstäblich aus der Bahn geworfen worden war. Vor ein paar Wochen ist er wieder durchgestartet und gilt als Hoffnungsträger der Demokraten im schwierigen "Rostgürtel" (rust belt) der USA.

Showdown am 8. November

Das Senatsrennen in Pennsylvania ist einer der wichtigsten Schauplätze der Zwischenwahlen am 8. November. Hier haben die Demokraten nämlich die seltene Chance, einen bisher republikanischen Sitz hinzuzugewinnen und damit ihre hauchdünne Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer zu festigen. Ein Sieg in dem Bundesstaat im Nordosten der USA wäre auch ein landesweites Signal. "Die Wahl hier wird zeigen, wie die Stimmung im Land vor der Präsidentschaftskampagne 2024 ist", glaubt der Politikwissenschafter und Meinungsforscher Christopher Borick, der am Muhlenberg College in Allentown eine Autostunde nördlich der Metropole Philadelphia lehrt.

Es geht um verdammt viel in Pennsylvania: die Mehrheit im Senat. Die Zurückweisung eines halbseidenen republikanischen Kandidaten, der von Donald Trump installiert wurde. Und um den Nachweis, dass die Partei von Präsident Joe Biden bei der traditionellen Arbeiterschaft verlorenen Boden gutmachen kann.

Der Rockstar der Demokraten: John Fetterman bei seiner Kundgebung in York.
Foto: Karl Doemens

Wenn man vom südlichen Nachbarstaat Maryland kommend mit dem Auto durch die hügelige Landschaft zum Örtchen York mit seiner großen Papierfabrik fährt, bekommt man einen Eindruck von der Herausforderung: Auf vielen Grundstücken flattern – teils vergilbte – Trump-Flaggen. Außerhalb der Großstädte Philadelphia und Pittsburgh dominieren in Pennsylvania die Republikaner. Mit einer knappen Mehrheit von 44.000 Stimmen hat sich Trump 2016 gegen Hillary Clinton den Bundesstaat gesichert, der mir rund 13 Millionen eineinhalbmal so viele Einwohnerinnen und Einwohner wie Österreich hat. Vier Jahre später siegte Biden mit 81.000 Stimmen Vorsprung.

"Total bodenständig"

Wer die Senatswahl in Pennsylvania gewinnen will, der muss Wähler wie Morris Schrum von sich überzeugen – einen Trucker mit Dreitagebart, kariertem Flanellhemd und Händen wie Pranken. Der 42-Jährige ist mit seiner Frau Diane zur Kundgebung in York gekommen. Parteipolitisch ist der als "Unabhängiger" registrierte Wähler nicht gebunden. Doch von dem Mann auf der Bühne zeigt er sich begeistert. "Fetterman ist total bodenständig", glaubt er. "Der kann eine Menge für uns tun."

Mit einem insgesamt eher linken Programm will der Kandidat den Mindestlohn anheben, die Waffengesetze verschärfen und für eine Abschaffung der Filibuster-Regel kämpfen, die einfache Mehrheitsentscheidungen im Senat unmöglich macht. Morris ist wichtig, dass Fetterman für eine Legalisierung von Marihuana eintritt. "Der ist ein großartiger Typ", bestätigt Ehefrau Diane. Und der republikanische Gegenkandidat? Diane Schrum kann kaum an sich halten: "Der ist gar nicht von hier. Er lügt. Er ist ein Witz!"

Das klingt ein bisschen einfach. Aber ganz falsch ist es nicht. Der von Trump unterstützte US-Türke Mehmet Oz ist vielen Amerikanern vor allem durch die 13 Staffeln seiner "Dr. Oz Show" bekannt, in denen der gelernte Kardiologe vielerlei Gesundheits- und Medizintipps gab, die Experten oft anzweifelten, die ihm aber viel Geld einbrachten. Der umstrittene Fernseharzt warnte vor Handys, die angeblich Brustkrebs auslösen, verkaufte Kaffee-Wunderpillen und fragwürdige Diätmittelchen und pries Hydroxychloroquin als Corona-Therapeutikum an, womit er den damaligen Präsidenten Trump nachhaltig beeindruckte.

DoctorOz

Umstrittener TV-Arzt und Trump-Fan

Mit seinem auf bis zu 500 Millionen Dollar geschätzten Vermögen wäre Oz im Falle seiner Wahl einer der reichsten Senatoren. Laut Medienberichten wohnt er gar nicht in Pennsylvania, sondern im Nachbarstaat New Jersey. Als er ein Fernsehteam mit zum Einkaufen nahm, um die Teuerung von Lebensmitteln zu skandalisieren, verwechselte er den Namen des Supermarkts und erklärte vor der Gemüsetheke hochgestochen, seine Frau wolle "crudités" zubereiten, also Dips mit Rohkoststreifen, die normale Amerikaner schlicht "veggies" nennen.

"Oz hat ein Problem", urteilt Professor Borick. "Die Leute mögen ihn nicht. Sie trauen ihm nicht. Sie halten ihn für einen Scharlatan." Eigentlich müsste ein solcher Kandidat zu schlagen sein. Tatsächlich lag Fetterman im Sommer in den Umfragen satte acht Prozentpunkte vor dem Republikaner. Doch inzwischen ist sein Vorsprung auf nur noch drei Punkte geschrumpft. Ältere Beobachter erinnern sich an das letzte Senatsrennen in Pennsylvania im Jahr 2016, als die lange favorisierte demokratische Kandidatin auf den letzten Metern von einem Republikaner geschlagen wurde.

Die Gründe für die Umfrageflaute sind nicht einfach zu benennen. Grundsätzlich machen die hartnäckige Inflation und die hohen Benzinpreise den Demokraten zu schaffen. Experte Borick glaubt zudem, dass der Hoodie-Politiker Fetterman eine "ziemlich einzigartige politische Marke" geschaffen habe, die neben Chancen auch Risiken berge. Einerseits öffne er für die Demokraten Türen ins klassische Arbeitermilieu, die sonst verschlossen blieben. Andererseits könnte sein linkes Profil auch zur Belastung werden: "Sein Auftreten, seine Sprache und seine Themenauswahl passen nicht perfekt zu den älteren und eher moderaten Wähler in den Vorstädten von Philadelphia."

Allgegenwärtige Negativschlagzeilen

Diese potenzielle Verwundbarkeit versucht die Oz-Kampagne mit einem regelrechten Bombardement von Fernsehspots auszunutzen, in denen Fetterman als nachgiebig gegenüber der Kriminalität oder stiller Verbündeter des Verbrechens dargestellt wird. Aufhänger sind mal sein Eintreten für die Legalisierung von Cannabis und mal die Begnadigung von lebenslänglich Verurteilten mit guter Führung nach 25 Jahren Haft, die Fetterman als Vizegouverneur unterstützte. Rechte Spendenfonds von außerhalb des Bundesstaats haben Oz alleine im September mehr als 20 Millionen Dollar für seine Kampagne überwiesen. "Die Negativanzeigen sind allgegenwärtig", beobachtet Borick. "Und Oz wird mit ihnen weiter auf Fetterman einhämmern."

"Fetterman passt nicht perfekt zu den älteren und moderateren Wählern in den Vorstädten von Philadelphia", urteilt Politikprofessor Christopher Borick.
Foto: Muhlenberg College

Tatsächlich stützt Fettermans Lebenslauf die Unterstellungen nicht. In seinen 13 Jahren als Bürgermeister kämpfte er im Gegenteil für die Revitalisierung der heruntergekommenen, überwiegend schwarzen Stahlstadt Braddock und – zumindest anfangs mit Erfolg – für die Eindämmung der Kriminalität. Die Sterbedaten der neun Mordopfer während seiner Amtszeit ließ er sich als permanente Mahnung auf den rechten Arm tätowieren. Trotzdem scheint ihm die Oz-Kampagne bei einer wichtigen Wählergruppe zu schaden. "Die Unterstützung für Fetterman nimmt ab, je älter die Leute werden", hat Borick herausgefunden.

In der heißen Phase des Wahlkampfs kommt nun noch ein weiteres Thema hinzu, das den Demokraten Punkte kosten könnte: Fettermans Schlaganfall vor fünf Monaten. Zwar hat sich der Kandidat äußerlich weitgehend erholt. Doch bereitet ihm das Hören und das Aussprechen bestimmter Wörter noch Probleme. Länger fiel das kaum auf, weil er seine Kampagne während der Rekonvaleszenz weitgehend im Netz vorantrieb. Doch je massiver er nun in die Öffentlichkeit drängt, desto weniger lassen sich die Schwächen verbergen. Während eines halbstündigen Interviews mit dem Fernsehsender NBC verfolgte er kürzlich die Fragen als Untertitel auf seinem Computer.

"Gute Gesundheitsversorgung hat mir das Leben gerettet"

Bei der Kundgebung in York redet Fetterman vor mehr als 800 begeisterten Anhänger eine Viertelstunde lang frei ohne größere Versprecher. Seine Erkrankung spricht er gleich offen an. "Ich bin sicher: Sie alle wissen, dass ich einen Schlaganfall hatte", eröffnet er die Rede. "Wer von Ihnen hatte auch schon mal ein ernstes medizinisches Problem?" Viele Hände gehen nach oben. "Eine gute Gesundheitsversorgung hat mir das Leben gerettet", wendet der Kandidat das persönliche Schicksal ins Politische. "Sie verdienen dieselben Chancen. Deshalb werde ich dafür kämpfen, dass die Krankenversicherung ausgeweitet wird."

Die eigene Erfahrung verleiht dem Wahlkampf wichtige Glaubwürdigkeit und Authentizität. Doch Fetterman ahnt wohl, dass zugleich Zweifel an seiner vollen Arbeitsfähigkeit und Belastbarkeit bleiben. "Die gute Nachricht ist: Im Jänner (dem Beginn der Sitzungsperiode des neuen Senats, Anm.) wird es mir viel besser gehen", ruft er kämpferisch in den Saal. "Aber Doktor Oz wird immer noch ein Schwindler sein." Da jubelt die Menge.

"Das macht mir gar keine Sorgen." Cathy Hess (links) und ihre Freundin Amanda Mitties halten den Schlaganfall des Kandidaten für kein Problem.
Foto: Karl Doemens

Auch Amanda Mitties und Cathy Hess im Publikum sind überzeugt. Die beiden Freundinnen wollen Fetterman Anfang November ihre Stimme geben. "Er versteht uns und unsere Probleme", glaubt Mitties. Ganz anders als der Fernseharzt Oz: "Wir brauchen keinen weiteren Millionär im Kongress in Washington", erklärt Hess. Und die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Demokraten? "Das wird sich geben", wiegelt die Frau ab, deren T-Shirt mit einem Zitat des Bürgerrechtlers Martin Luther King zum Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt aufruft. "Das macht mir gar keine Sorgen."

Rund 150 Kilometer weiter nordöstlich ist sich Uni-Professor Borick nicht ganz so sicher: "Die Krankheit macht ein Rennen voller Dramen noch komplizierter." Für viele Menschen werde Fetterman dadurch menschlicher. "Aber es könnte sein, dass sich am Ende doch ein paar Wähler verunsichert fragen, ob er den Job wirklich ausfüllen kann." Eine Wette auf den Wahlausgang will der Experte nicht abschließen. Auf jeden Fall, sagt er voraus, werde die Abstimmung in Pennsylvania "sehr, sehr knapp" ausgehen. (Karl Doemens, 24.10.2022)