Angela Merkel ist in Deutschland 16 Jahre auf Sicht gefahren, sie hat jedoch Weichenstellungen, darunter Emmanuel Macrons Europa-Initiative oder die Energiepolitik, verpasst.

Foto: EPA/Axel Schmidt

Als der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Herbst 2017 an der Pariser Sorbonne seine Vision einer "Initiative für Europa" vorstellte, reagierte seine wichtigste europäische Partnerin, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, mit Schweigen. Macron hatte Merkel mit "policy" überrascht, statt über "politics" zu reden. Das bedarf der Erklärung.

Im Englischen steht "policy" für die inhaltliche Dimension von Politik, für politische Ideen, Initiativen und Konzepte. "Politics" bezeichnet dagegen die Kunst des Taktierens und Lavierens, die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen und Deals auszuhandeln, Menschen zu mobilisieren und Wahlen zu gewinnen. Es ist nicht verkehrt, wenn Politiker – zumal in Krisenzeiten – "politics" beherrschen. Aber es reicht nicht.

Nur der Start, nicht das Ziel

Auch in Österreich haben wir einen politischen Betrieb, der meint, Erfolg sei, Mehrheiten zu erreichen und Regierungschef zu werden. Dabei ist das nur der Start, nicht das Ziel.

Werner Faymann zum Beispiel wusste nicht, warum er Kanzler sein sollte, außer, um beim nächsten Mal wieder Kanzler zu werden. Auch das unzweifelhafte "Politics"-Talent Sebastian Kurz häufte zwar politisches Kapital an bei seinem Marsch durch die Institutionen und durch seine Wahlsiege; er verwendete dieses Kapital aber nicht, um politische Ideen oder Konzepte umzusetzen, sondern um seine Macht und die seiner Partie auszubauen. Im Bundeskanzleramt hatte die von Antonella Mei-Pochtler geleitete Stabsstelle "Think Austria" – die neue Ideen entwickeln und umsetzen sollte – eine Handvoll Mitarbeiterinnen; die PR-Abteilung hatte 59. Wenn Historiker keine großen Taten finden werden, die sich mit dem Namen Kurz verbinden lassen, so liegt es auch an diesem Missverhältnis: Man kann nicht verkaufen, was man nicht hat.

Blick über die Grenze

Warum es so wichtig ist, "policy" zu machen, nicht nur "politics"? Hier hilft noch einmal der Blick über die Grenze. Merkel ist in Deutschland 16 Jahre auf Sicht gefahren, ohne große Idee, und wurde als Krisenkanzlerin gefeiert. Sie hat jedoch Weichenstellungen, darunter Macrons Europa-Initiative oder die Energiepolitik, verpasst. Daraus sollte Österreich lernen.

Man darf vom politischen Personal verlangen, dass es eine Berufung spürt, nicht für sich selbst, sondern für das Gemeinwohl, und danach handelt. Wir müssen es auch wählen. Ja, es gibt Menschen mit guten Absichten, Rückgrat und Talent. Nein, nicht jedes politische Konzept trägt und ist es wert, weiterverfolgt zu werden. Aber Besseres entsteht aus dem Wettbewerb von Ideen, aus Inspiration und Innovation, nicht aus PR-Wettbewerben und dem Bewahren des Status quo.

Tatsächliche politische Leistung

Wir müssen unterscheiden lernen zwischen "politics" – den Wahlplakaten und der Rhetorik – und der tatsächlichen politischen Leistung: "policy" also. Krisenmanagement allein wird uns nicht weiterhelfen, wenn wir die Zukunft gestalten wollen. In Zeiten des Krieges, der Energiekrise, des Klimawandels und der stärker auftrumpfenden Extremisten brauchen wir Menschen in hohen und höchsten Staatsämtern, die den Mut zu großen Würfen haben – und dabei das Risiko des Scheiterns nicht scheuen. (Veit Dengler, 24.10.2022)