Wird Putin den Atomknopf drücken? "Er ist kein verrückter Held. Er ist nicht bereit, freiwillig für eine Idee in den Tod zu gehen."

Foto: Hans Rauscher

Vladimir Sorokin ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen russischen Schriftsteller. In Der Tag des Opritschniks (2006) schildert er mit atemberaubender Voraussicht ein Russland von 2027, das sich unter einer Putin-ähnlichen Figur buchstäblich einmauert. Sorokin, der in Berlin lebt, war jetzt bei dem renommierten Festival Literatur im Nebel in Heidenreichstein im Waldviertel zu Gast. Er sagt, das heutige Russland erinnere an ein altes Grammofon, das immer das gleiche stalinistische Lied spiele. Aber es sei keine Musik mehr zu hören, nur noch Gekratze. Allen sei klar, dass "die Nadel bald brechen und das Grammofon kaputt wird".

STANDARD:Sie sagten soeben bei Literatur im Nebel, die russische Literatur lebe noch. Trotz Kriegs, trotz Putin.

Sorokin: Ich hoffe, dass die russische Literatur noch lebt. Mein Urteil bezieht sich auf das Interesse des Publikums, das hier so zahlreich erschienen ist. So viele Menschen sind gekommen, um einem russischen Schriftsteller zuzuhören. Das ist ein gutes Zeichen. Sie hätten auch nicht kommen können. Die russische Literatur ist jetzt ein sehr aktuelles Problem. Als der Krieg angefangen hat, habe ich ein Foto aus Kiew gesehen, wo ein Bild von Puschkin auf einer Müllhalde lag. Ich denke, die Ukrainer haben ihr volles Recht dazu. Absolut. Es findet eine Aggression Russlands gegen die Ukraine statt. Das hat nicht nur Putin zu verantworten, sondern auch die russische Kultur. So wie auch die deutsche Kultur im Zweiten Weltkrieg die Aggression Deutschlands mitzuverantworten hatte.

STANDARD: Was verstehen Sie in dem Kontext unter Kultur? Nationalismus? Die Großmachtträume? Eine dünne Schicht von Propagandisten?

Sorokin:Es geht nicht nur um die Propagandisten. Russland hat mit seiner gesamten Kultur das, was jetzt geschieht, zu verantworten. Aber Mentalität ist nicht Kultur. Wenn Russen Ukrainer töten und ihnen Gewalt antun – das ist nicht Kultur. Das ist eben die Mentalität. Und die Mentalität legt Zeugnis davon ab, dass nach 20 Jahren Putin’ scher Propaganda die Menschen zu Zombies wurden – das ist dann eben diese Mentalität. Das ist nicht Erziehung durch Tolstoi, Dostojewski und Rachmaninow, sondern das ist die Erziehung durch den Fernseher.

STANDARD: Sie haben schon 2006 einen Roman veröffentlicht, der ein Russland unter dem heutigen Putin-System vorhersagt. Woher wussten Sie das?

Sorokin: Es hat genügt, Putins Werdegang zu lesen. Der Background dieses Menschen ist Sporthalle, Straße und KGB. Und später die Arbeit in der DDR. Und außerdem hat er damals schon gesagt, der Zerfall der Sowjetunion sei eine große geopolitische Katastrophe gewesen. Was konnte man sich von einem solchen Menschen erwarten?

STANDARD: In Ihrem Buch "Die rote Pyramide" gibt es eine Szene, in der ein Vertreter der Macht sagt, man wisse ja, in welchem Land man lebe. Hier sei alles "als ob". Freiheit: als ob. Gesetze: als ob. Frieden: als ob. Ist das so?

Sorokin: Russland hatte in den Neunzigerjahren die Chance, einen realen, zivilisierten Weg der Entwicklung einzuschlagen. Wenn Jelzin zu Beginn der Neunzigerjahre die sowjetische Vergangenheit endgültig begraben hätte, so wie man das in Deutschland und in Österreich in Bezug auf die nationalsozialistische Vergangenheit in den Fünfzigerjahren getan hat, dann würden wir in einem ganz anderen Land leben, und vieles in diesem Land wäre nicht "als ob", sondern real und echt. Der Leichnam des sowjetischen Mythos wurde nicht begraben, sondern in eine Ecke geschoben, und man hat gesagt, er wird schon von selbst verrotten. Aber das war ein Fehler, denn der Leichnam ist wiederauferstanden und bedroht jetzt die ganze Welt. Deshalb ist bei uns alles, angefangen von Politik über Gerichte bis hin zum freien Fernsehen in einem Zustand des "Als ob". Leider. Die Folge dieses Fehlers, das ist die Herrschaft Putins, die schließlich zu diesem Krieg geführt hat.

STANDARD: Sie sagen, die russische Herrschaftsform der Despotie habe sich seit dem 16. Jahrhundert, seit Iwan dem Schrecklichen nicht verändert. Ist das in der russischen DNA?

Sorokin: Dieses Problem ist in der Konstruktion der Staatsmacht begründet. Diese Konstruktion hat sich seit dem 16. Jahrhundert nicht radikal verändert. Jelzin hatte die Möglichkeit, das zu verändern. Denn hätte er das Sowjetische begraben, dann hätte er diese rote Pyramide der Macht auch begraben. Er hat es nicht getan. Er hat lediglich die Fassaden dieser Pyramide ausgewechselt. Putin hat also einen fruchtbaren Boden vorgefunden – entfesselter Kapitalismus und das Erbe des sowjetischen Systems. Hinzu kommt ein mittelalterliches System der Macht. Putin selbst ist jedoch nicht ewig, also wird früher oder später sein System zusammenbrechen. Aber die Frage ist, wird auch die rote Pyramide zusammenbrechen? Oder wird man wieder nur die Fassaden auswechseln?

STANDARD: Es gibt inzwischen eine Mittelschicht. Wird sie aufbegehren?

Sorokin: Ich setze meine Hoffnungen in die jüngere Generation. Die Herrschaft Putins ist in eine Sackgasse geraten. Selbst wenn wir die Politik außen vor lassen – das System hat sich in ökonomischer Hinsicht als unhaltbar erwiesen. Es ist eine Gesellschaft, die keine positive, normale Zukunft hat. Und junge Menschen, junge Frauen, die Kinder bekommen und eine Zukunft aufbauen wollen, begreifen, dass es hier kein Leben im Wohlstand gibt und es auch keines geben kann. Die Propaganda kann im Zeitalter des Internets und der sozialen Netzwerke nicht allmächtig agieren. Wir sind jetzt nicht in einer Ära der stalinistischen Propaganda, als die Menschen in der Sowjetunion hinter dem Eisernen Vorhang lebten. Jetzt wissen die Menschen in Russland, wie man im Westen lebt, und die staatliche Propagandamaschine bekommt Risse.

STANDARD: Wird Putin als letztes Mittel den roten Atomknopf drücken?

Sorokin: Die nukleare Erpressung war eines der wichtigsten Instrumente Putins für die Kommunikation mit dem Westen. Er hatte eigentlich zwei: die Bestechung und die nukleare Erpressung. Das sind Arbeitsmethoden des KGB. Aber die nukleare Erpressung funktioniert jetzt nicht mehr, weil die USA und die Nato Putin zu verstehen gegeben haben, dass, sollte Russland taktische Nuklearwaffen einsetzen, eine harte Reaktion zu erwarten wäre. Wladimir Putin ist kein verrückter Held. Er ist nicht bereit, freiwillig für eine Idee in den Tod zu gehen. Er ist kein Asket, er ist kein Ideenmensch. Man denke an sein Schloss auf der Krim. Er hängt am Leben. Der Westen kann den roten Knopf vergessen.

STANDARD: Sie sagten, im Krieg könne man keinen Roman schreiben. Aber haben Sie schon die Idee für einen?

Sorokin: Natürlich habe ich unterschiedliche Ideen, aber jede Idee muss erst heranreifen, so wie ein Apfel. Und dann muss einem dieser Apfel in die Hand fallen. Bislang ist noch kein Apfel vom Baum gefallen. Die Äpfel sind noch grün. Ich warte. (Hans Rauscher, 24.10.2022)