Zu früh gefreut: Der junge Poet Lucien (Benjamin Voisin) versucht im Paris des 19. Jahrhunderts zum Star zu reifen und stolpert über Intrigen.

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Wenn es einerlei ist, welches Buch man heute verreißen und welches morgen bejubeln soll, warum nicht den Zufall entscheiden lassen? Auf dem Höhepunkt des frühen Medienbooms im Paris der Restaurationszeit kommt es in diesem Film zu einer denkwürdigen Szene: Ein kleines Äffchen greift nach dem ein oder anderen Exemplar und trifft damit die redaktionelle Auswahl. Die Herren Journalisten, die sich ihr Brot vor allem mit galligen Verrissen verdienen, sind noch skrupelloser. Denn nicht Expertise lenkt ihr Urteil, und schon gar nicht der Geschmack. Man lässt sich schlicht bezahlen.

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Man liegt nicht verkehrt, wenn man dabei auch an rezente Begriffe wie Fake News denkt. Das Spiel mit falschen Gerüchten und getürkten Informationen, das in Verlorene Illusionen in der Hausse einer bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit praktiziert wird, ist zwar reine Korruption. Doch die perfiden Strategien, derer man sich bedient, um Themen in die Gesellschaft herauszuspülen, zu "pushen", erinnern nicht ohne Grund an Echokammern und Empörungskurven moderner sozialer Medien.

Verwegene Analogien

Verlorene Illusionen heißt der Film nach dem gleichnamigen Buch aus Honoré de Balzacs Romanserie Die menschliche Komödie, die er zwischen 1837 und 1843 geschrieben hat. Ein Kostümfilm zwar, aber keiner, der die Vergangenheit wie ein Fossil behandelt, sondern der klug und durchaus auch etwas verwegen nach Analogien zur Gegenwart sucht. Zu Beginn des Jahres wurde er mit sieben Césars, dem größten nationalen Filmpreis Frankreichs, ausgezeichnet.

Nur am Anfang von Xavier Giannolis Film überwiegt der Eindruck eines konventionelleren Historiendramas. Der 20-jährige Lucien (Benjamin Voisin), ein empfindsamer, aber unerfahrener Dichter, beginnt eine Affäre mit einer verheirateten Frau des Adels (Cécile de France). Per Geburt dem vornehmen Kreis nicht zugehörig – nur seine Mutter war aristokratisch –, erhofft er sich mittels seines Talents den Sprung in die andere Klasse. In dieser bezwingt jedoch der äußere Schein jede Idee von Wahrhaftigkeit. Ein zu aufdringlicher Blick in der Oper, und man ist erledigt.

Gegen die Elite

Lucien unterschätzt den Dünkel in Paris und die intriganten Ausschließungslogiken einflussreicher Damen wie der Marquise d’Espard (Jeanne Balibar). Doch die Deutungshoheit des Adels ist am Schwinden. Das immer selbstsicherere liberale Bürgertum bedient sich neuer Mittel, eben der kleinen Magazine und Zeitungen, um gegen die Elite zu mobilisieren. Der wichtigste Verleger ist ein von Gérard Depardieu gespielter grummeliger Ex-Gemüsehändler.

Der Vorteil der Neuen, heißt es bei Balzac, der im Film durch einen Statthalter, den Dichter Nathan D’Anastazio (Xavier Dolan), gleichsam als Off-Erzähler spricht, sei, dass man diesen nicht den Kopf abschlagen kann. Es wächst ja immer einer nach. Verlorene Illusionen wird darüber zur Gesellschaftsstudie, zum luziden Panorama eines Epochenwandels.

Episch und dramatisch

Giannoli balanciert geschickt zwischen den Polen. Einerseits behält er die epische Breite im Blick, indem er gleich einem Chronisten zeigt, wie sich die Medien mit manipulativen Techniken zur unumgehbaren Gegenmacht im Staat entwickeln. Andererseits erzählt er im Stil eines Intrigendramas von romantischen Überkreuzungen und Fallstricken, über die Lucien trotz seiner Begabungen irgendwann stolpern muss – zu sehr gehört die lustvolle Ausschaltung des Gegners bereits zum Geschäftsprinzip.

Giannoli versteht sich selbst gern als Außenseiter im aus seiner Sicht ähnlich Cliquen-getriebenen französischen Autorenkino. Er will die Emotion, und er glaubt zugleich an visuelle Opulenz. Mit ausladender Geste schreibt er Lucien, dem wütenden Dichter, bis zuletzt jene moralischen Qualitäten zu, die den meisten anderen fehlen.

Macht der Claqueure

Am blassesten ist der Film dort, wo er sich an die Idee der aufrichtigen Liebe klammert. Lucien lernt, das System zu nutzen, kann er aber die Karriere seiner Geliebten Coralie (Salomé Dewaels) mitentscheiden? Schließlich herrschen auch am Theater falsche Richter, ein Claqueur (Jean-François Stévenin), der für den Bestzahlenden Tomaten wirft. Giannolis Film macht sich am Ende selbst keine Illusionen. Er will zeigen, dass es früher nicht viel besser war. Denn wie heißt es doch: Je mehr sich verändert, desto mehr bleibt, wie es war. (Dominik Kamalzadeh, 24.10.2022)