Foto: APA/Barbara Gindl

PRO: Klarheit schaffen

von Michael Völker

Die Lage ist ernst. Die Einzigen, die das nicht begreifen wollen oder können, sind ausgerechnet die, die selbst ganz tief in diesem Schlamassel stecken oder, schlimmer noch, die Republik in dieses hineingeritten haben. In der ÖVP herrscht offenbar die Ansicht, man kann sich über diesen Korruptionssumpf hinwegturnen, ihn bagatellisieren und kleinreden. Das wird nicht gelingen. Der Wasserschaden an der Republik, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen das formuliert hat, wird nur größer und bedrohlicher werden. Die ÖVP-Spitze ist jedenfalls nicht willens, den Ernst der Lage zu erkennen und notwendige Konsequenzen einzuleiten.

Auch deshalb braucht es Neuwahlen. Die ÖVP steckt derart tief in der eigenen Krise, dass sie gar nicht mehr fähig ist, andere Krisen zu bewältigen. Karl Nehammer ist die Kanzlerschaft längst über den Kopf gewachsen.

Was ein weiteres, nahezu zwingendes Argument für Neuwahlen ist: Die 37 Prozent, die die sogenannte Neue ÖVP noch unter Sebastian Kurz bei der Wahl 2019 erreicht hat, sind offenbar durch Tricks und Schummeleien zustande gekommen. Dieses parlamentarische Kräfteverhältnis und die Zusammensetzung der Regierung bilden nicht die politische Meinungslage im Land ab. Daher wäre es notwendig, beim Volk noch einmal nachzufragen und die Zusammensetzung des Nationalrats und der Regierung dementsprechend zu ändern. Und jemand anderen an die Regierungsgeschäfte zu lassen, der das besser kann. Das muss doch gehen.

Das Argument der Grünen, nur Alma Zadić sei ein Garant für eine unabhängige Justiz, ist Quatsch. Selbstverständlich gibt es auch in anderen Parteien honorige Persönlichkeiten, die für eine starke Justiz geradestehen. (Vielleicht nicht in der ÖVP.) Noch schöner wäre es, jemanden zu finden, der außerhalb der Parteien steht und glaubwürdig und unbeeinflusst für die Unabhängigkeit der Justiz einstehen kann. Eine saubere Untersuchung und Bewertung aller Vorwürfe ist notwendig. Allerdings nicht nur aus strafrechtlicher Sicht.

Dem kleinen Koalitionspartner kommt hier eine besondere Bedeutung zu: Da die ÖVP nicht kann und will, liegt es an den Grünen, ihrer staatspolitischen Verantwortung nachzukommen. Sie können beweisen, dass sie nicht nur der Macht wegen an ihrer Regierungsbeteiligung festhalten. Und den Weg zu Neuwahlen frei machen, um Klarheit zu schaffen. (Michael Völker, 24.10.2022)

KONTRA: Zuerst aufräumen!

von Lisa Nimmervoll

Die ÖVP ist wieder einmal in allergrößten Turbulenzen. Die kurze, mittlerweile nachgerade berüchtigte "Ära" Kurz wirft einen langen, einen sehr langen Schatten, der ihr immer wieder massiv zusetzt. Sebastian Kurz ist der personifizierte Mühlstein für die Volkspartei. Der Ex-ÖVP-Chef und seine Hinterlassenschaft holen die Partei immer wieder ein und ziehen sie in die Tiefe. Für steten Nachschub sorgen dabei die Offenbarungen des Thomas Schmid.

Da wundert man sich zuerst einmal, warum der aktuelle ÖVP-Obmann und Kanzler Karl Nehammer nicht endlich die Reißleine zieht, um sich und die Seinen, vor allem aber die Partei zu retten. Dazu müsste er ein für alle Mal auch die letzten Bande zu Kurz und allen, die für diesen und dessen Art, Politik zu machen, stehen, kappen. In der Partei aufräumen. Putzen. Saubermachen. Tut Nehammer das nicht bald, steht nicht nur er als Parteiobmann nach einem absehbaren Wahldesaster zur Disposition, sondern die ganze Volkspartei.

Es ist ihr Job, das zu erledigen, jetzt, auf offener Bühne, quasi vor Zeugen. Es ist nicht die Aufgabe der Bevölkerung, über den Weg einer Neuwahl die politischen Schmutzflecken, die die ÖVP unter Kurz, Schmid und Co dem Land, der politischen Kultur und der Demokratie an sich verpasst hat, wegzumachen. Warum sollen alle neu wählen, wo es im Kern doch nur um die ÖVP geht? Sie ist es, die sich quasi eine innerparteiliche Neuwahl verordnen muss. Sie muss wählen, wie sie sein möchte. Welche Regeln sie sich selbst auferlegt. Wie sie wieder wählbar werden will und mit welchem Spitzenpersonal. Das kann und soll ihr niemand abnehmen. Sie muss zeigen, ob sie sich selbst glaubwürdig neue politisch-ethische Standards zu geben vermag oder lieber weiterlaviert.

Unabhängig davon hat sie zu erledigen, was ihre Aufgabe bis 2024 ist: gemeinsam mit den Grünen zu regieren. Eine Flucht jetzt in Neuwahlen würde es ihr zu leicht machen, wäre ein zu simpler Schleichweg aus der Verantwortung für das, was diese Partei angerichtet hat. Zumal es eine irrige Hoffnung ist, zu meinen, Neuwahlen würden mutmaßliche Korruption und die demokratieschädigenden Aktionen einer Partei ungeschehen machen. Eine Wahl ist nicht der Putzfetzen der Demokratie, mit dem man "Schmutzflecken" von Parteien wegwischen kann, und alles ist wieder gut. Dafür muss die ÖVP die Verantwortung tragen. Tut sie es nicht, wird sie bei der kommenden Wahl die Rechnung bekommen – und zwar für alles, was sie (sich) in der vergangenen Legislaturperiode geleistet hat. (Lisa Nimmervoll, 24.10.2022)