Im Palazzo Chigi, dem Regierungssitz in Rom, hat nun Giorgia Meloni (re.) das Sagen. Vorgänger Mario Draghi (li.), der viel für sein Land erreicht hat, übergab ihr am Samstag die Glocke, um sich in Kabinettssitzungen Gehör zu verschaffen.

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Um Mario Draghis Regierungsbilanz zusammenfassen, reicht eine Zahl: +3,4. Um diese Prozentzahl wird Italiens Volkswirtschaft – die drittgrößte in der EU – in diesem Jahr laut der OECD-Prognose vom September wachsen, trotz Ukraine-Kriegs, horrender Energiepreise und noch nicht ausgestandener Pandemie.

Zum Vergleich: Für Deutschland, normalerweise die Lokomotive Europas, prognostiziert der Klub der 30 reichsten Industrieländer 1,2 Prozent Wachstum. Und sogar China wird von Italien übertrumpft, wenn auch nur knapp. Italien erntet die Früchte der zahlreichen Reformen, die Draghi durchgeführt oder zumindest angestoßen hat. Und die Wirtschaft ist ja nicht alles.

Kritischer Zeitpunkt

Draghi hinterlässt seiner Nachfolgerin Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d'Italia, die am Samstag samt neuem Kabinett vereidigt wurde, auch volle Gasspeicher und neue Verträge mit nichtrussischen Lieferanten wie Libyen, Algerien und Aserbaidschan, die über die bestehenden Pipelines durch das Mittelmeer nach Sizilien und Apulien schon heute deutlich mehr Gas nach Italien leiten als noch vor dem Krieg.

In den letzten Wochen hat Italien mehr Gas an die EU-Partner im Norden geliefert, als im Süden aus Afrika und Asien angekommen ist. Draghi hat die Regierungsgeschäfte im Februar 2021 in einem für Italien kritischen Zeitpunkt übernommen: Die Pandemie wütete, die EU-Kommission hatte gerade den 191-Milliarden-Euro-Wiederaufbauplan seines Vorgängers Giuseppe Conte als ungenügend zurückgewiesen – und bald überfiel Russland die Ukraine.

Frieden oder Klimaanlagen?

Der 75-jährige Römer mit dem Beinamen "Super Mario" delegierte die Beschaffung und Verteilung der Impfstoffe, mit der seine Vorgänger überfordert gewesen waren, an einen Armeegeneral, er überarbeitete den Wiederaufbauplan und stellte sich ohne Wenn und Aber an die Seite der Ukraine – obwohl sich die große Mehrheit der Italienerinnen und Italiener in Umfragen gegen Waffenlieferungen aussprach.

Draghi tat das, was der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz laut seinen Kritikern nicht tut: Er führte. Nach der Invasion Putins in die Ukraine stellte er seine Landsleute umgehend auf Rationierungen ein – mit den Worten: "Wollt ihr Frieden oder den ganzen Sommer lang die Klimaanlagen auf Hochtouren laufen lassen?"

Für Gaspreisdeckel

Auf EU-Ebene setzte er sich für einen Gaspreisdeckel ein, in der Annahme, dass Russland seine Gaslieferungen ohnehin einstellen würde und dass es sich die übrigen Produzenten nicht leisten könnten, den riesigen europäischen Markt zu boykottieren. Der von Draghi vorgeschlagene Preisdeckel wäre kostenlos gewesen – im Unterschied zu Deutschlands 200-Milliarden-Doppelwumms, den nicht nur Draghi als unsolidarisch und gefährlich für die Einheit der EU taxiert.

Der ehemalige EZB-Präsident Draghi führte seine "Regierung der nationalen Einheit", der von ganz links bis ganz rechts fast alle Parteien angehörten, gelegentlich ziemlich autoritär. Bei seinen Reformen, die auch heikle Bereiche wie die Steuerpolitik, die Korruptionsbekämpfung und die Justiz betrafen, nahm er wenig Rücksicht auf parteipolitische Empfindlichkeiten. "Wenn euch eine Maßnahme nicht passt, dann sucht euch einen anderen Ministerpräsidenten", gab er den Parteiführern mehr oder weniger unverblümt zu verstehen.

Rache der Populisten

Lega-Chef Matteo Salvini und die Ex-Premiers Conte und Berlusconi rächten sich, indem sie Draghi im vergangenen Jänner nicht zum Staatspräsidenten wählten, ihn danach auch bei den Reformen ausbremsten – und ihn schließlich im Juli stürzten. Nun haben in Rom drei populistische und zum Teil sehr weit rechts stehende Parteien das Kommando übernommen: die Fratelli d'Italia von Giorgia Meloni, die fremdenfeindliche Lega von Matteo Salvini und die Forza Italia des früheren Skandalpremiers Silvio Berlusconi.

Sie haben bei der Wahl vom 25. September zusammen 43 Prozent der Stimmen erzielt. Der parteilose Draghi, der nicht zur Wahl stand, kommt im Vergleich dazu in den Umfragen immer noch auf Beliebtheitswerte von über 60 Prozent. Bei seiner letzten Regierungssitzung in der vergangenen Woche sagte er zum Abschied: "Regierungen kommen und gehen, Italien bleibt." (Dominik Straub aus Rom, 24.10.2022)