Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu gab Anlass zu neuer Sorge.

Foto: imago / Russian Defense Ministry

Seit dem Wochenende geistert der Begriff "schmutzige Bombe" durch die Berichterstattung zum Krieg gegen die Ukraine. Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu hatte gegenüber den beiden europäischen Atommächten Großbritannien und Frankreich sowie gegenüber der Türkei behauptet, Kiew plane die Zündung einer radioaktiven Bombe, um diese Tat dann Moskau in die Schuhe zu schieben.

Dmytro Kuleba, der Außenminister der Ukraine, die auf Basis des Budapester Memorandums von 1994 sämtliche Atomwaffen von ihrem Territorium abgezogen und dafür von Russland die Zusicherung ihrer territorialen Integrität erhalten hatte, reagierte prompt: "Die russischen Lügen über angebliche Pläne der Ukraine, eine 'schmutzige Bombe' zu nutzen, sind so absurd, wie sie gefährlich sind", schrieb Kuleba auf Twitter. "Die Russen beschuldigen andere oft dessen, was sie selbst planen."

Auch in Großbritannien, Frankreich und den USA wurde die russische Behauptung zurückgewiesen: "Die Welt würde jeden Versuch durchschauen, diese Behauptung als Vorwand für eine Eskalation zu nutzen", hieß es am Montagmorgen in einem gemeinsamen Statement der Außenminister.

Keine nukleare Kettenreaktion

Worum aber handelt es sich bei den "schmutzigen Bomben" genau? Mit Kernwaffen, die im Handumdrehen ganze Städte ausradieren können und seit Beginn des Kalten Krieges den rüstungstechnischen Rahmen für das "Gleichgewicht des Schreckens" bilden, haben sie nur wenig gemein. Und doch übersteigt ihr Gefahrenpotenzial in mancherlei Hinsicht das der herkömmlichen Artillerie.

Zunächst einmal geht es bei schmutzigen Bomben um konventionelle Sprengsätze, bei deren Detonation beigefügtes radioaktives Material verstreut wird. Auch wenn solche Waffen also nicht mit einem Atomsprengkopf gezündet werden und keine nukleare Kettenreaktion mit den bekannten verheerenden Wirkungen auslösen, so geht mit ihrem Einsatz doch eine nukleare Kontamination der näheren Umgebung einher. In den USA ist für die schmutzigen Bomben der Begriff Radioactive Dispersion Devices (RDD) geläufig, also "Vorrichtungen zur Verbreitung von Radioaktivität". Im deutschen Sprachraum kann man auch die Abkürzung USBV-A finden. Sie steht für "Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung – Atomar".

Laut dem deutschen Bundesamt für Strahlenschutz werden die radiologischen Gefahren einer schmutzigen Bombe "im Allgemeinen überschätzt". Die Behörde unterschiedet dabei allerdings nach dem jeweils eingesetzten Material: So wären etwa im Falle von Cäsium-137 auch "in unmittelbarer Nähe des Freisetzungsortes, das heißt außerhalb des unmittelbaren Wirkkreises der Explosion, die Dosiswerte für die Bevölkerung so niedrig, dass spezielle Maßnahmen des Strahlenschutzes wie etwa das Verweilen im Haus oder gar eine Evakuierung nicht erforderlich wären". Beim Einsatz von Plutonium-239 hingegen wären durchaus "Szenarien denkbar, bei denen in der näheren Umgebung bis zu wenigen Kilometern Entfernung vom Freisetzungsort Maßnahmen des Notfallschutzes erforderlich werden".

Hohes Eskalationspotenzial

Dennoch: Bei aller Gefährlichkeit für Mensch und Umwelt spielen schmutzige Bomben in den Horrorszenarien einer atomaren Verwüstung zunächst also keine zentrale Rolle. Allerdings geht von ihnen ein erhebliches Risiko für die politischen und psychologischen Faktoren einer möglichen Eskalationsspirale aus.

Zum einen sind schmutzige Bomben vergleichsweise leicht herzustellen. Wer in den Besitz radioaktiver Stoffe kommt, die üblicherweise etwa in Bereichen wie Technik oder Medizin Anwendung finden, ist von der möglichen Produktion einer solchen Waffe nicht mehr weit entfernt. Nicht umsonst wurde in diesem Zusammenhang auch in der Vergangenheit häufig vor deren Einsatz durch Terrorgruppen gewarnt. Umso weniger problematisch wäre die Herstellung schmutziger Bomben also für staatliche Akteure.

Ihr Einsatz allerdings könnte – trotz der begrenzten nuklearen Belastung – die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten massiv verunsichern und auch in weiterer Entfernung zu Panikreaktionen führen. Expertinnen und Experten weisen dabei auch darauf hin, dass der Mensch mit seinen Sinnen Strahlung nicht wahrnehmen und daher auf keine angemessene Gefahrenwahrnehmung zurückgreifen kann. Und vor allem könnte der Einsatz schmutziger Bomben eine weitere Drehung der politischen Eskalationsspirale bedeuten, nach der die Anwendung noch gefährlicherer Kernwaffen "nur" der nächste Schritt wäre. (Gerald Schubert, 24.10.2022)