An der Oberfläche befindet sich nur ein einziges Gebäude. Der Detektor liegt tief darunter im Eis verborgen.
Foto: Felipe Pedreros, IceCube/NSF

Sie werden gern Geisterteilchen genannt, weil sie mühelos durch Wände und Planeten hindurchgehen: Neutrinos. Ihr Erfinder Wolfgang Pauli (Entdecker war er nicht, immerhin postulierte er sie nur als theoretisches Konzept) hielt sie für unbeobachtbar. Vielleicht wollte er sich einfach den enormen Aufwand nicht vorstellen, der für ihre Beobachtung nötig ist.

Letzterer widmet sich der größte Teilchendetektor der Welt, eine Maschine der Superlative, die sich auf dem geografischen Südpol der Erde befindet. Das Experiment heißt Ice-Cube, wie der bekannte Rapper, der derzeit noch das Google-Ranking für sich entscheidet, was sich allerdings in den nächsten Jahren durchaus ändern könnte, sollte etwas Ungewöhnliches gefunden werden.

Die Zahlen sind selbst in der Welt der Teilchenphysik mit ihrer Tradition von Großexperimenten eindrucksvoll. Über 2.000 Tonnen Material wurden dafür an den Südpol geflogen, darunter ein 500 Tonnen schwerer Bohrer. Er war nötig, um 86 Löcher ins Eis zu bohren, jedes von ihnen fast 2,5 Kilometer tief. In die Löcher versenkte man über 5.000 lichtempfindliche Sensoren. Das ist nötig, um Neutrinos mit extrem hoher Energie aus den Weiten des Alls aufzuspüren.

Suche nach Quantengravitation

Nun veröffentlichte die Ice-Cube-Kollaboration neue Ergebnisse im Fachjournal "Nature Physics". Man analysierte Beobachtungsdaten, die über sieben Jahre zwischen 2010 und 2018 gesammelt worden waren. Das Ziel war die Suche nach sehr schwachen Anzeichen für Effekte, die mit Quantengravitation in Zusammenhang gebracht werden können. Solche Effekte gab es kurz nach dem Urknall, in einem Bereich, der für die Wissenschaft nach wie vor unzugänglich ist, sie könnten aber auch im Vakuum des Weltraums äußerst schwache Spuren hinterlassen. Hier erweist sich die besondere Charakteristik der Neutrinos als Vorteil. Sie sind äußerst scheu und wechselwirken nur in sehr seltenen Fällen mit Materie. Sehr schwache Veränderungen der Raumzeit ließen sich allerdings an ihnen feststellen.

Konkret geht es um einen Effekt, der sich Neutrino-Oszillation nennt und der sensibel auf Veränderungen der Raumzeit reagieren könnte. Lange Zeit galten Neutrinos als masselos wie Lichtteilchen. Doch bereits in den Achtzigerjahren gab es Hinweise auf Abweichungen. Es gibt nämlich mehrere Arten von Neutrinos – die Physik spricht hier gern von Geschmacksrichtungen, im Englischen "flavors" –, die bei unterschiedlichen Reaktionen entstehen. Haben sie Masse, können sie sich auf ihrem Weg durchs All verwandeln. Genau dieser Effekt wurde in den Neunzigerjahren nachgewiesen. 2015 wurde dafür der Nobelpreis für Physik verliehen.

60 Einzelbeobachtungen waren es, die die Forschenden von Ice-Cube nun genauer unter die Lupe nahmen – eine geringe Zahl angesichts der Abermillionen Kollisionen, die am LHC untersucht werden. Die Daten genügten aber, um einige theoretische Modelle der Quantengravitation auszuschließen, wie das Team nun berichtete. Anzeichen für Abweichungen der derzeitigen Beschreibung der Raumzeit durch die Allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins, die in Richtung einer neuen Physik weisen könnten, ließen sich nicht feststellen.

Ein Kubikkilometer Eis

Ice-Cube ist in verschiedener Hinsicht ein außergewöhnliches Experiment. Die gängigsten Neutrinodetektoren sind riesige unterirdische Wassertanks, deren Innenwände mit Fotodetektoren ausgestattet sind. Weil Neutrinos so schwach wechselwirken, ist es von Vorteil, die Detektoren unterirdisch zu installieren. Alles, was kein Neutrino ist, soll abgeschirmt werden.

Ice-Cube ist im Prinzip ebenfalls ein Detektor, der mit einer riesigen Menge aus Wasser arbeitet. Nur handelt es sich hier nicht um flüssiges Wasser in einem Tank, sondern um das Eis des Südpols. Die Sensoren sind in einer Tiefe zwischen 1.450 und 2.450 Metern platziert und bilden einen Würfel mit einer Seitenlänge von einem Kilometer. Das Eis ist hinreichend durchsichtig, um darin Lichtblitze zu registrieren, tief im Eis, wo eigentlich keine sein sollten.

Ein Neutrino-Event mit dem Namen IC170922 erzeugte im Inneren des Eises einen Lichtblitz.
IceCube Neutrino Observatory

Um sichtbares Licht im Eis zu erzeugen, braucht es hohe Energien. Ice-Cube ist auf das Registrieren seltener, hochenergetischer Neutrinos aus dem All ausgelegt, wie sie nur bei extremsten kosmischen Ereignissen erzeugt werden. Trifft ein Neutrino aus einem solchen Ereignis zufällig auf einen Atomkern im Eis, entstehen verschiedene geladene Teilchen. Ihre Energie ist dabei so hoch, dass sie sich im Eis einen Moment lang schneller als das Licht fortbewegen. Das mag paradox klingen, liegt aber daran, dass die Lichtgeschwindigkeit in festen Medien niedriger ist als die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit, die laut Einsteins Relativitätstheorie nicht überschritten werden kann. Dabei erzeugen die schnellen Teilchen charakteristische Lichtblitze aus sogenannter Tscherenkow-Strahlung, die ein optisches Pendent zum Überschallknall darstellt. Diesen Lichtblitz messen die Fotodetektoren von Ice-Cube.

Gebohrt wurde mit Wärme, die das Eis zum Schmelzen brachte. Danach ließ man die Detektoren hinab, was schnell erfolgen musste, bevor die Löcher wieder zufroren. Eine Wartung war danach nicht mehr möglich, doch von den 5.500 Sensoren sind nur etwa 100 nicht einsatzfähig.
Foto: Jim Haugen, IceCube/NSF

Wer Einsamkeit und durchgehende Finsternis liebt, kann sich übrigens für die Mitarbeit bei Ice-Cube bewerben. Für die Wintermonate wird jedes Jahr Personal gesucht, das die Station am Laufen hält. (Reinhard Kleindl, 25.10.2022)