Kämpfen ist wie Tanzen: Die auf dem Buch basierende Inszenierung "Infight. Wer blutet, verliert" wirft einen weiblichen und migrantischen Blick in eine Welt, die mehr ist als Kampfsport.

Nikolaas von Schrader

Wer Kampfsport macht (und einen guten Trainer hat!), der weiß: Kämpfen ist wie Tanzen. Es gibt eine Art Choreografie, und wer seine Füße nicht im Griff hat (Stichwort Beinarbeit), wer aus dem Rhythmus stolpert, ist verloren. Insofern ist es nur logisch, dass in Robert Prossers Dramatisierung seines eigenen Romans "Gemma Habibi" im Wiener Ateliertheater ein Schlagzeug zentral in einer Öffnung der Bühnenrückwand platziert ist und Lan Sticker (Musik-Arrangements) dem Abend einen mal treibenden, mal hypnotischen Rhythmus verpasst.

In "Gemma Habibi", 2019 im Ullstein-Verlag erschienen und von der Kritik als "geniale Milieuschilderung" gewürdigt, erzählt Prosser, selbst Kampfsportler, von Lorenz, der für die Staatsmeisterschaft trainiert. Er will siegen, genau wie sein Freund Zain, doch sie kommen aus ganz unterschiedlichen Welten. Der Krieg in Syrien ist auch in Europa angekommen, Zain ein Flüchtling. Sein Ehrgeiz ist naturgemäß ein anderer als der des aus der Provinz kommenden Lorenz.

Die auf dem Roman basierende Inszenierung "Infight. Wer blutet, verliert" ist unter Beteiligung der Boxprofis Christina Pöppelmeyer und Ahmet Simsek entstanden, wirft also nicht zuletzt einen weiblichen bzw. migrantischen Blick auf eine Szene, die wesentlich heterogener und offener ist, als man sich das gemeinhin vorstellt. Neben Einsichten in die Kampfsportszene (Schwitzanzug!) und die Beweggründe, die Menschen zu diesem Sport bringen, ist die Stärke des mit 75 Minuten recht kompakten Abends aber seine Energie.

Takt mit Springschnur

Die Tempi wechseln dramaturgisch gelungen, mal steht Prosser – souverän zwischen totaler Präsenz und einem entspannten Aus-der-Rolle-Kippen schwankend – als alter Boxer in Bügelfaltenhosen und Hemd allein vor dem Publikum, mal holt er Pöppelmeyer und Simsek auf die Bühne, die ihrerseits von ihren eigenen Boxerfahrungen erzählen. Und dann wird gekämpft. Musik ist nicht nur durch den Takt, den Lan Sticker dem Abend am Schlagzeug vorgibt, sondern auch durch die Lieder, zu denen gekämpft und trainiert wird. Wie schon gesagt, Rhythmus ist alles, ob es nun der von Boney M.s "Rasputin" ist oder von Johann Strauß’ "An der schönen blauen Donau", ist da eher sekundär.

Schon Szenen wie jene, in der minutenlang (und selbst für das Publikum schweißtreibend) synchron Seil gesprungen wird, entfalten eine ungeahnte Bühnentauglichkeit und Ästhetik. Der Höhepunkt ist aber der tatsächliche Wettkampf, angefangen mit dem Auftritt Pöppelmeyers im Pailletten-besetzten Boxmantel. Wer gewinnt? Darum geht es am Ende natürlich nicht. Ein mitreißender, unterhaltsamer Abend über eine Welt, die vielen gänzlich fremd ist – umso mehr empfiehlt es sich, diese näher zu betrachten. (Andrea Heinz, 25.10.2022)