Nicht "Dirty Bombs", sondern der Krieg macht den Ukrainern das Leben schwer. In Mykolajiw gibt es keine Trinkwasserversorgung mehr.

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Moskau fährt dieser Tage weitere schwere Geschütze im Angriffskrieg gegen die Ukraine auf – weniger auf dem Schlachtfeld als in der Informationssphäre. Denn zur Verunglimpfung der Ukraine verwendet Russland neben den falschen und antisemitischen Nazi-Vergleichen nun ein weiteres geschichtsverfälschendes Narrativ: Nach Aussagen des Duma-Chefs Wjatscheslaw Wolodin, eines wichtigen Manns im Regime von Kreml-Chef Wladimir Putin, eifert der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem einstigen radikalislamistischen Terroristen Osama bin Laden nach und betreibt wie bin Laden nuklearen Terror, indem er "dirty bombs" in der Ukraine einsetzen wolle.

Die Behauptung, dass die Ukraine sogenannte schmutzige Bomben auf ihrem eigenen Gebiet zünden könnte – es handelt sich dabei um konventionelle Sprengsätze, die auch radioaktives Material verstreuen –, hatte zuvor der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in raren Telefongesprächen mit westlichen Amtskollegen am Sonntag fallengelassen. Am Montag wurde diese "Befürchtung" zudem von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und Außenminister Sergej Lawrow neuerlich in den Raum gestellt.

Die westlichen Atommächte Frankreich, Großbritannien und die USA wiesen die Behauptungen umgehend als "falsch" zurück. Russland wolle einen weiteren Vorwand für Eskalation schaffen, hieß es in einem gemeinsamen Statement. Neben den Verteidigungsministerien in Paris, London und Washington – vor Freitag herrschte seit Mai zwischen Schoigu und US-Verteidigungsminister Lloyd Austin Funkstille – hatte Schoigu auch mit seinem Amtskollegen in der Türkei telefoniert.

ISW: Westen ist Ziel

Auch die Ukraine, die ihre Atomwaffen nach dem Zerfall der Sowjetunion abgegeben hat, schmetterte die Vorwürfe ab: Diese seien so "absurd wie gefährlich", sagte Außenminister Dmytro Kuleba. Das Land stehe treu zum Atomwaffensperrvertrag, sagte er und warnte: "Die Russen beschuldigen andere oft dessen, was sie selber planen." Ähnlich äußerte sich auch Selenskyj.

Die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) hält dagegen auch den russischen Einsatz von "dirty bombs" in der Ukraine für unwahrscheinlich. Schoigus Behauptungen seien lediglich ein weiteres Kapitel der russischen Desinformationskampagne und zielten wohl eher darauf ab, die Unterstützer der Ukraine im Westen zu verunsichern und die militärische Hilfe zu verlangsamen. Russland behaupte seit Kriegsbeginn, der Westen helfe der Ukraine bei verdeckten Angriffen mit Massenvernichtungswaffen, erinnern die ISW-Fachleute.

Gegenoffensive in Cherson

Indes meldete die Ukraine am Montag einen russischen Doppelschlag auf ein Wohngebäude in Mykolajiw. Laut ersten Berichten kam niemand ums Leben. Mykolajiw liegt nördlich der zum Teil von Russland besetzten und umkämpften Region Cherson, die seit einigen Wochen im Zentrum der ukrainischen Gegenoffensive steht.

Die ukrainische Armee dringt immer weiter am nordwestlichen Ufer des Flusses Dnjepr vor. In Erwartung von Gefechten ruft die von Russland eingesetzte Verwaltung schon seit Tagen zur Evakuierung der Stadt Cherson am Mündungsdelta und der umliegenden Gebiete auf.

Lokale Miliz

Der ukrainische Militärgeheimdienst meldet entgegen Berichten allerdings keinen Abzug russischer Truppen. Sie bereiten sich auf eine Verteidigung der Stadt vor, sagte Leiter Kyrylo Budanow. Am Montag riefen die Besatzungsbehörden zur Bildung einer lokalen Miliz auf.

Auch die Fachleute des ISW stellen die Glaubwürdigkeit russischer Aussagen infrage, wonach die Ukraine den Kachowka-Damm, der von russischen Truppen offenbar angesichts des ukrainischen Vormarsches vermint wurde, am Dnjepr zerstören wolle, und warnen vor entsprechenden Absichten Russlands. Die Überflutung der besetzten Gebiete würde nach Angaben Budanows eine Umweltkatastrophe hervorrufen und die Wasserversorgung der Halbinsel Krim gefährden, den Vormarsch der ukrainischen Truppen im Süden aber nur wenig verlangsamen.

Moskau sieht EU als Dieb

Indes setzt Russland offenbar weiter auf mutmaßlich iranische Drohnen bei Luftangriffen. Nach britischen Angaben dienen diese als Ersatz für Präzisionsraketen, deren Vorrat schrumpfe. 85 Prozent der Drohnen konnten demnach bisher aber abgefangen werden. Der iranische Generalstabschef Mohammad Bagheri hat der EU, die ihn wegen der Drohnenlieferungen mit Sanktionen belegt hat, spöttisch vorgeschlagen, sie könne sich mit seinem eingefrorenen Vermögen "Kohle für den Winter" kaufen.

Den EU-Vorschlag, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zum Wiederaufbau der Ukraine zu nutzen, kommentierte Kreml-Sprecher Peskow dagegen mit dem Vorwurf, der Westen habe russische Gold- und Devisenreserven gestohlen. Kiew bezifferte die vorläufigen Kosten für den Wiederaufbau am Montag auf 750 Milliarden Dollar. Deutschland sagte der Ukraine Hilfen dafür zu. "Wer heute in den Wiederaufbau der Ukraine investiert, der investiert in ein künftiges EU-Mitgliedsland," sagte der deutsche Kanzler Olaf Scholz auf der deutsch-ukrainischen Wirtschaftskonferenz in Berlin.

Hassprediger auf RT suspendiert

Währenddessen sind TV-Talkshows im russischen Staatsfernsehen voll mit Experten, die offen Angriffe auf die ukrainische zivile Infrastruktur bejubeln. Doch einer ging sogar dem russischen Staatssender RT zu weit: der Kreml-Propagandist Anton Krassowski. Er wurde entlassen, weil er in einer Fernsehsendung gefordert hatte, ukrainische Kinder, die der Ansicht seien, die Ukraine sei von Russland okkupiert worden, entweder in einen Fluss zu werfen und zu ertränken oder sie in einer Hütte einzusperren und anzuzünden. Daneben sprach er etwa der Ukraine das Existenzrecht ab, rief zur Erschießung von Ukrainern auf und verharmloste Vergewaltigungen.

"Die Äußerungen Anton Krassowskis sind barbarisch und grässlich", begründete die RT-Chefin Margarita Simonjan die vorläufige Kündigung. Sie beende die Zusammenarbeit vorerst, damit niemand auf den Gedanken komme, dass sie oder andere RT-Mitarbeiter diese Ansichten teilten. Warum die Suspendierung erst jetzt erfolgt, ist unklar: Programmchef Krassowski tritt seit Monaten als Hassprediger gegenüber der Ukraine auf. Der 47-Jährige steht seit Februar auf der Sanktionsliste der EU.

Krassowski erklärte am Montag, er bedauere, die Grenze überschritten zu haben. Manchmal sei es so, dass er sich in seinen Sendungen zu sehr hinreißen lasse, begründete er seine Aussagen. Der ukrainische Außenminister Kuleba wünschte Krassowski, dass er eines Tages wegen Anstiftung zu Völkermord strafrechtlich verfolgt werde, und fordert weitere Länder dazu auf, RT zu verbieten. (Flora Mory, 24.10.2022)