Miley Cyrus schaffte den Sprung vom Kinderstar ins Musikbusiness.

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Als Kinderstar hat man es besonders schwer: Entweder man verfällt vor den Augen der Welt und der sabbernden Boulevard-Medien den dunklen Seiten des Ruhms, den Drogen und dem Geld – siehe Macaulay Culkin, Lindsay Lohan oder Amanda Bynes. Die zweite Option: Man emanzipiert sich vor ebendiesen Augen und reißt halbnackt auf einer Abrissbirne (zu Englisch "wrecking ball") reitend das Image ein, das so mühevoll für einen aufgebaut wurde. So geschehen bei Miley Cyrus, die einer der wenigen Kinderstars sein sollte, die den Sprung ins Musikbusiness schafften.

Berühmt wurde Cyrus durch ihre ikonische Rolle als Hannah Montana, die sie schnell zum familienfreundlichen Aushängeschild für den Disney Channel machte, wo die Serie von 2006 bis 2011 lief. Schon als Hannah stürmte sie die Charts und legte so den Grundstein für ihre spätere Karriere – zum Beispiel mit dem Song "He Could Be The One".

Aushängeschild für den Disney Channel: Die frühere Miley Cyrus, hier mit ihrem Vater Billy Ray Cyrus.
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2008 passierte Miley Cyrus das, was zu dieser Zeit viele weibliche Stars erdulden mussten (wir erinnern uns an "The Fappening"): Es wurden Unterwäsche- und Bikini-Bilder von ihr geleakt. Liest man heute Medienberichte von damals, erkennt man schnell, wie der Hase in der Prä-#MeToo-Ära lief: Im Fokus stand die Frage, ob Miley noch als Vorbild für junge Girls taugte – und nicht der Fakt, dass das Leaken der Bilder ihre Privatsphäre verletzte. Im selben Jahr posierte sie für die legendäre Annie Leibovitz – genau genommen oben ohne, aber gänzlich bedeckt von einem Leintuch.

Emanzipationsversuch

Cyrus musste sich damals öffentlich entschuldigen, und sogar ihr Sender veröffentlichte ein Statement. – 2018 nahm sie ihre Entschuldigung übrigens zurück und schickte allen Haterinnen und Hatern von damals via Twitter ein deftiges "Fuck You".

Die Emanzipation der Miley Cyrus begann mit ihrem Song "Can’t Be Tamed": Im Songtext kämpferisch, im Musikvideo sexier, als man sie je zuvor gesehen hatte. Sie war damals 17 – und die süße Hannah Montana hatte ausgedient. Irgendwie klar, oder? Haben wir nicht alle irgendwann unsere Kuscheltiere entsorgt und plötzlich realisiert, dass auch wir sexuelle Wesen sind, die mit den Buben aus der Parallelklasse schmusen wollen?

Zumindest für die Medien schien es erneut ziemlich überraschend zu kommen, dass nach Britney und X-Tina die nächste junge Frau die Ketten der US-amerikanischen Popstar-Prüderie sprengen wollte – Titel wie "Too Sexy Or Age Appropriate?" prägten die Berichte über Cyrus. Ein Vorfall, der die "echte Miley" durchblitzen ließ, der jedoch aus Gründen der Vermarktbarkeit lange versteckt werden musste, war der Peniskuchen-Zwischenfall. Weil sie ihrem damaligen Freund Liam Hemsworth zum Geburtstag im Jahr 2012 eine Torte in Penisform schenkte, die sie dann auch noch abzulecken wagte, soll sie ihre Sprechrolle in "Hotel Transsilvanien" verloren haben – und es wurde immer klarer, dass die kinderfreundliche Miley Geschichte war. Auch hierzu äußerte sich Miley erst Jahre später:

Und von nun an ging’s rund: Mit ihrem 2013er-Album "Bangerz", das Hitsingles wie "Wrecking Ball" oder "We Can’t Stop" enthielt, in dem Cyrus große Ärsche und Drogenkonsum besingt, positionierte sich die Sängerin als gekonnte Provokateurin und brachte das Publikum und ihre Kritiker:innen zum Kochen – natürlich auf denkbar unterschiedliche Art und Weise.

Man hat als geneigte Zuseherin zumindest rückblickend das Gefühl, dass Miley Cyrus nach ihrem weichgespülten Disney-Dasein und Vorfällen wie dem Nude-Leak beschlossen hatte, ihr Narrativ selbst in die Hand zu nehmen. In Prä-Wokeness-Zeiten wurde das Ganze natürlich anders wahrgenommen, als dies heute der Fall wäre. Miley wurde belächelt, in die Schublade des revoltierenden Kinderstars gesteckt und musikalisch nur semiernst genommen, obwohl sie große kommerzielle Erfolge vorzuweisen hatte und mit ihrem Video zu "Wrecking Ball" einen Rekord nach dem anderen brach.

Empörung und Häme

Der Auftritt, für den Miley Cyrus wohl am meisten gebasht wurde, ereignete sich bei den VMAs im Jahr 2013, wo sie mit Robin Thicke auftrat, der zu dieser Zeit gerade seinen Durchbruch mit dem vielfach als sexistisch und gewaltverharmlosend kritisierten Song "Blurred Lines" feierte. Miley – im hautfarbenen Latexzweiteiler – twerkte auf der Bühne, rieb sich an Thickes Schritt, griff mit einem Schaumstofffinger zwischen seine Beine und streckte ihre Zunge in etwa so weit raus, wie wir Normalsterbliche es nur von der Mandeluntersuchung kennen.

Die Performance sorgte für Empörung und Häme – Mileys Hintern wurde zum Meme und bösartig mit einem Truthahn verglichen, sie wurde zum Objekt kollektiver Fremdscham, und der Auftritt ging als denkwürdig in jeder Hinsicht in die jüngere Pop-Geschichte ein. Nach außen hin ließ sich Miley Cyrus von den negativen Reaktionen nicht beeindrucken und machte das Beste daraus: "Mein VMA-Auftritt hatte mehr als 306.000 Tweets pro Minute!", twitterte sie siegessicher. Natürlich ging die Sache nicht spurlos an ihr vorbei: 2020 verriet sie in einem Interview, dass sie aufgrund des Bodyshamings, das sie nach dem Auftritt erdulden musste, drei Jahre lang keine Shorts trug, weil sie von Komplexen geplagt war. "Das war ein Weckruf für mich, ich musste meine Plattform für wichtigere Dinge nutzen", erklärte Miley. Der schlechte Einfluss, den die Musikindustrie zu dieser Zeit auf ihr Selbstbild hatte, führte dazu, dass sie die Happy Hippie Foundation gründete, eine NGO, die sich für wohnungslose und queere Jugendliche einsetzt.

Der steinige Weg zur "guten Feministin"

Schon als Miley Cyrus ihre wilde Phase durchlebte, erklärte sie in mehreren Interviews, dass sie Feministin sei, wenn auch mit etwas holprigen Worten wie "Feminismus ist die beste Sache aller Zeiten". Die Öffentlichkeit zerriss sie dafür und prangerte an, dass sich Miley Cyrus trotz ihrer angeblich feministischen Ansichten sexualisiert im Sinne des männlichen Blicks zeigte. So jemand könne keine echte Feministin sein, oder? Sie nutze das Ganze doch nur für ihren eigenen Profit aus! Schließlich waren die Jahre rund um 2014 die Hochphase des Sellout-Feminismus, in der Stars wie Beyoncé entdeckten, dass Feminismus ein lukratives Marketing-Tool darstellt. Nach dem Release ihres Musikvideos zu "Wrecking Ball" veröffentlichte Sängerin Sinead O’Connor sogar einen offenen Brief an Cyrus, in dem sie ihr in mütterlichem und ziemlich bevormundendem Ton erklärte, dass sie sich nicht länger von der Musikindustrie "prostituieren" lassen solle und mit ihrem sexy Auftreten keinesfalls zum Empowerment junger Frauen beitrage. Dass man ein sexuelles Wesen, eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst, ein Showbusiness-Profi, eine smarte Provokateurin und eine Feministin zugleich sein kann, schien damals die Köpfe zum Qualmen zu bringen.

Mit ihrem Song "Mother’s Daughter", den sie 2019 veröffentlichte, hat Miley Cyrus in Form einer waschechten feministischen Hymne in die Köpfe zementiert, was ihre Fans schon lange wussten: Sie meint das mit dem Feminismus ziemlich ernst – und hat sich zu einem Superstar entwickelt, der in seinen millionenfach aufgerufenen Musikvideos LGBTIQ-Aktivistinnen und – Aktivisten eine Plattform gibt und die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen, besingt: "Don’t Fuck With My Freedom".

Miley Cyrus’ Patentante ist übrigens die berühmte Dolly Parton. Diese äußerte sich damals, als uns Miley gerade twerkend ihre Zunge entgegenstreckte, zu ihrem Verhalten. "Das Mädchen kann schreiben. Das Mädchen kann singen. Das Mädchen ist smart. Sie muss vielleicht nicht so drastisch sein. Aber ich respektiere ihre Entscheidungen. Ich hab's auf meine Art gemacht, also warum soll sie es nicht auf ihre machen können?" (Verena Bogner, 28.10.2022)