Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan ist für "sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet", mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Zhadan sprach in seiner Dankesrede darüber, wie der Krieg Menschen, Sprache und Zeit verändert. DER STANDARD bringt Auszüge.

"Solange wir unsere Sprache haben, so lange haben wir immerhin die vage Chance, uns erklären, unsere Wahrheit sagen, unsere Erinnerung ordnen zu können." Serhij Zhadan bei der Ehrung am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche.
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Manchmal kommt es mir so vor, als würde die Welt, wenn sie beobachtet, was sich da seit sechs Monaten im Osten Europas abspielt, von Wörtern und Begriffen Gebrauch machen, die das, was passiert, schon längst nicht mehr erklären können. Was zum Beispiel meint die Welt – ich weiß um das Irreale und Abstrakte der Bezeichnung, habe sie aber hier bewusst gewählt –, wenn sie den Frieden zu einer Notwendigkeit erklärt?

Scheinbar geht es um die Beendigung des Krieges, das Ende der militärischen Konfrontation, um den Moment, wenn die Artillerie schweigt und Stille eintritt. Frieden sollte doch die Sache sein, die uns zur Verständigung führt. Was wollen die Ukrainer denn am meisten? Natürlich die Beendigung des Krieges. Natürlich Frieden. Natürlich die Einstellung der Gefechte. Ich, der ich im Zentrum von Charkiw im achtzehnten Stock wohne und vom Fenster aus beobachten kann, wie die Russen von Belgorod aus Raketen abfeuern, wünsche mir nichts sehnlicher als die Einstellung des Raketenbeschusses, die Beendigung des Krieges, die Rückkehr zur Normalität, zu einem natürlichen Dasein.

Warum werden die Ukrainer dann so oft hellhörig, wenn europäische Intellektuelle und Politiker den Frieden zu einer Notwendigkeit erklären? Nicht etwa, weil sie die Notwendigkeit des Friedens verneinen, sondern aus dem Wissen heraus, dass Frieden nicht eintritt, wenn das Opfer der Aggression die Waffen niederlegt. Die Zivilbevölkerung in Butscha, Hostomel und Irpen hatte überhaupt keine Waffen. Was die Menschen nicht vor einem furchtbaren Tod bewahrt hat. Die Bewohner von Charkiw, die von den Russen permanent und wüst mit Raketen beschossen werden, haben auch keine Waffen. Was sollten sie denn nach Meinung der Anhänger eines um jeden Preis schnell geschlossenen Friedens tun? Wo sollte für sie die Grenze zwischen einem Ja zum Frieden und einem Nein zum Widerstand verlaufen?

"Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden."

Wenn wir jetzt, im Angesicht dieses blutigen, dramatischen und von Russland entfesselten Krieges, über Frieden sprechen, wollen einige eine simple Tatsache nicht zur Kenntnis nehmen: Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Es gibt verschiedene Formen eines eingefrorenen Konflikts, es gibt zeitweilig besetzte Gebiete, es gibt Zeitbomben, getarnt als politische Kompromisse, aber Frieden, echten Frieden, einen Frieden, der Sicherheit und Perspektive bietet, gibt es leider nicht. Und wenn manche Europäer (zugegebenermaßen nur ein sehr kleiner Teil) den Ukrainern ihre Weigerung, sich zu ergeben, fast schon als Ausdruck von Militarismus und Radikalismus anlasten, tun sie etwas Merkwürdiges – beim Versuch, in ihrer Komfortzone zu bleiben, überschreiten sie umstandslos die Grenzen der Ethik. Das ist keine Frage an die Ukrainer, das ist eine Frage an die Welt, an ihre vorhandene (oder nicht vorhandene) Bereitschaft, um fragwürdiger materieller Vorteile und eines falschen Pazifismus willen ein weiteres Mal das totale, enthemmte Böse zu schlucken.

Appelle an Menschen zu richten, die ihr Leben verteidigen, Opfer zu beschuldigen, Akzente zu verschieben, gute und positive Parolen manipulierend einzusetzen, ist für den einen oder anderen eine ziemliche bequeme Form, die Verantwortung abzuschieben. Dabei ist alles ganz einfach: Wir unterstützen unsere Armee nicht deshalb, weil wir Krieg wollen, sondern weil wir unbedingt Frieden wollen. Nur ist die uns unter dem Vorwand des Friedens angetragene, sanfte und diskrete Form der Kapitulation nicht der geeignete Weg zu einem friedlichen Leben und zum Wiederaufbau unserer Städte. Vielleicht müssten die Europäer weniger Geld für Energieträger ausgeben, wenn die Ukrainer kapitulierten, aber wie würden sich die Menschen in Europa fühlen, wenn sie sich bewusst machten (woran gar kein Weg vorbeiführt), dass sie ihr warmes Zuhause mit vernichteten Existenzen und zerstörten Häusern von Menschen erkauft haben, die auch in einem friedlichen und ruhigen Land leben wollten? (...)

"Wo endet denn der Krieg, und wo beginnt der Frieden?"

Wo in dieser neuen, gebrochenen und verschobenen Wirklichkeit endet denn der Krieg, und wo beginnt der Frieden? Der Kühlwagen mit den Leichen der Gefallenen – geht es da noch um Frieden oder schon um Krieg? Wenn Frauen an Orte gebracht werden, an denen keine Gefechte stattfinden – wofür ist das eine Unterstützung? Für die friedliche Lösung des Konflikts? Das Tourniquet (ein Instrument, um Blutungen zu versorgen, Anm.), das du für einen Soldaten gekauft hast und das ihm das Leben rettet – ist das noch humanitäre Hilfe oder schon eine direkte Unterstützung der Kämpfenden? Und wenn du jenen hilfst, die für dich, für die Zivilisten in den Kellern, für die Kinder in der Metro kämpfen, hast du dann die Grenzen eines achtbaren Gesprächs über das Gute und über Empathie überschritten? Müssen wir unser Recht auf Existenz in dieser Welt in Erinnerung rufen, oder ist dieses Recht offensichtlich und unantastbar? (...)

Klar benennen

Wir werden in den nächsten Jahren nicht umhinkommen, uns über heikle Themen zu verständigen – über Populismus und das Messen mit zweierlei Maß, über Verantwortungslosigkeit und politischen Konformismus, über Ethik, einen Begriff, den man seit langem vergeblich im Vokabular derer sucht, die in der heutigen Welt folgenschwere Entscheidungen treffen. Diese Themen, könnte man sagen, betreffen die Politik, und deswegen müssen wir über Politik reden. Aber Politik ist hier nur ein Deckmantel, ein Schlupfwinkel, eine Gelegenheit, scharfe Kanten zu umgehen und die Dinge nicht klar zu benennen. Dabei erfordern die Dinge genau das: dass man sie klar benennt. Ein Verbrecher ist ein Verbrecher. Freiheit ist Freiheit. Niedertracht ist Niedertracht. (Serhij Zhadan, 25.10.2022)