In den 1990er-Jahren wurde in Österreich gegen einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft demonstriert – mit Verweis auf die Neutralität.
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An würdigen Vorschlägen mangelte es nicht, als im österreichischen Parlament 1965 über den künftigen Nationalfeiertag debattiert wurde. Zehn Jahre waren vergangen, seit Österreich durch den Staatsvertrag und den Abzug der letzten alliierten Besatzungstruppen nach dem Zweiten Weltkrieg die volle staatliche Souveränität wiedererlangt hatte. Wann wollte man die zurückgewonnene Eigenständigkeit künftig feierlich begehen?

Am 12. November, dem Tag, an dem 1918 die Erste Republik ausgerufen worden war? Am 27. April, an dem sich 1945 die provisorische Staatsregierung konstituiert hatte? Oder am 15. Mai, an dem 1955 nach langem Ringen endlich der Staatsvertrag unterzeichnet worden war?

Es gab noch eine vierte Option. Dass die Wahl ausgerechnet auf diese fiel, zeigt, wie tief eine von außen auferlegte Verpflichtung schon in den 1960er-Jahren in die österreichische DNA eingeschrieben war: Der Tag der "immerwährenden Neutralität" wurde zum Nationalfeiertag erhoben. Diese war am 26. Oktober 1955 beschlossen worden – allerdings nicht auf österreichischen Wunsch. Die Neutralität war der Preis gewesen, den Moskau für die Zustimmung zum Staatsvertrag verlangt hatte.

Am 15. Mai 1955 wurde der "Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich" unterzeichnet, am 27. Juli 1955 trat er in Kraft. Der Neutralitätsbeschluss folgte am 26. Oktober 1955, einen Tag nach dem dem Abzug der letzten Besatzungstruppen aus Österreich.
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Von Vöslau nach Moskau

An Debatten über einen Feiertag der souveränen Republik war noch nicht zu denken, als eine österreichische Regierungsdelegation am 11. April 1955 ein Flugzeug auf dem sowjetischen Militärflugplatz in Bad Vöslau bestieg. Die Nervosität der Passagiere war groß: Ob die Einladung nach Moskau ein gutes Zeichen war?

Zehn Jahre waren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vergangen, Jahre, in denen die Hoffnung auf eine Wiederherstellung der österreichischen Souveränität so manche Höhen und Tiefen erlebt hatte. Immer wieder war ein Abschluss der Verhandlungen über den Abzug der alliierten Besatzungsmächte greifbar erschienen, nur um dann doch wieder blockiert zu werden – mal von den Westmächten, mal von der Sowjetunion.

Nur Monate vor der Einladung nach Moskau hatten sich im Westen eine baldige Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die Nato und die Gründung des Warschauer Pakts im Osten abgezeichnet. In Österreich nährte das eine politische Sorge: dass es zu einer weiteren Einzementierung der Besetzung des Landes kommen könnte – oder schlimmer: zu einer Teilung. Dass eine solche von Stalin schon vor Jahren als nachteilig verworfen worden war, wussten nur die österreichischen Kommunisten.

Skepsis im Westen

Noch kurz vor der Abreise nach Moskau hatte Bundeskanzler Julius Raab (ÖVP) gemeint, er verspreche sich nicht viel davon. Bruno Kreisky (SPÖ), als Staatssekretär im Außenministerium ebenfalls mit an Bord, warnte: "Ein vollkommenes Scheitern der Besprechungen mit den Russen könnte Folgen haben, gegen die uns der Westen nicht schützen kann."

Tatsächlich war man im Westen wenig begeistert über den österreichischen Ausflug. Was genau der neue sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow im Sinn hatte, war unklar, eine direkte Verhandlung der Österreicher mit der Sowjetunion ein völliges Novum. "Den Amerikanern und den Briten ist das Thema aus den Händen geglitten", sagt der österreichisch-amerikanische Historiker Günter Bischof. "Bis dahin haben praktisch sie die westliche Position bestimmt."

Moskaus Bedingung

Im britischen Foreign Office teilte man Kreiskys Befürchtungen. Die Österreicher würden sich in ihr eigenes Verderben stürzen, meinte Geoffrey Harrison, Chef der Österreich-Abteilung im Londoner Außenministerium. Doch es kam ganz anders: Moskau zeigte sich bereit, die "österreichische Frage" zu lösen – wenn das Land seine Neutralität erklärt. Dass auch die Amerikaner ein neutrales Österreich akzeptieren würden, war in Moskau seit 1954 bekannt.

"Die sowjetische Überlegung war, dass man Österreich damit aus der Nato heraushalten kann und eine zu starke Westanbindung verhindert", sagt Bischof. Der Professor für Geschichte an der University of New Orleans hat vor kurzem, gemeinsam mit dem Grazer Historiker Peter Ruggenthaler, ein Buch über den österreichischen Balanceakt zwischen Ost und West veröffentlicht (Österreich und der Kalte Krieg, Leykam-Verlag). Darin wird auch nachgezeichnet, wie sich die österreichische Neutralität im Lauf der Jahrzehnte entwickelte und veränderte.

Gewinke nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags im Wiener Schloss Belvedere (v. l.): Antoine Pinay (Außenminister Frankreichs), Wjatscheslaw Molotow (Außenminister der UdSSR), Leopold Figl (österreichischer Außenminister), US-Außenminister John Foster Dulles und der britische Amtskollege Harold MacMillian.
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Krisenhafter Lernprozess

"Was die Neutralität genau bedeutet, war ein Lernprozess", sagt Ruggenthaler. Die Impulse dafür kamen lange Zeit weniger aus Wien als von außen: Während Moskau Österreichs Beitritt zum Europarat 1956 noch zähneknirschend akzeptierte, gab es zu den Bestrebungen, Teil des Wirtschaftsverbands Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu werden, ein deutliches Njet.

Zur Nagelprobe wurden aber vor allem die Krisen in Österreichs unmittelbarer Nachbarschaft, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs: Der ungarische Volksaufstand 1956 und der Prager Frühling 1968 führten die Möglichkeiten und Grenzen einer neutralen österreichischen Außenpolitik im Kalten Krieg deutlich vor Augen.

Man nahm Flüchtlinge auf und war klar westlich orientiert. Gleichzeitig flogen sowjetische Flugzeuge über österreichisches Territorium, ohne dass viel Aufhebens darum gemacht wurde. Zurückhaltend blieb Wien auch, als während der Libanonkrise 1958 US-Militärflugzeuge aus der BRD kommend ohne Genehmigung den Luftraum über Tirol nutzten – solange es Moskau nicht merkte, wurde das toleriert.

Identität und Nostalgie

Indes passierte etwas Unvorhergesehenes: Hätten die Österreicherinnen und Österreicher 1955 eine Wahl gehabt, wären sie wahrscheinlich für einen Nato-Beitritt gewesen, vermutet Ruggenthaler. Im Lauf der Zeit definierten sie sich aber zunehmend über die Neutralität, sie wurde zu einem Grundpfeiler der österreichischen Identität. Der immer geübtere Balanceakt zwischen Ost und West brachte auch Wohlstand und andere Vorteile mit sich: Österreich wurde als Vermittler zu einem internationalen Player.

Was ist von diesen Früchten der Neutralität noch übrig? Die Ansiedlung einiger internationaler Institutionen – und viel Nostalgie, sagt Bischof. "Fakt ist, dass die Neutralität durch den EU-Beitritt enorm erodiert und auf ein Minimum begrenzt wurde, aber nach wie vor ein emotionales Thema ist. Sie beruht heute vor allem auf dem Identitätsaspekt – obwohl sich das sicherheitspolitische Umfeld mit dem Ukraine-Krieg enorm geändert hat."

Emotionaler Schutzschirm

Was die Neutralität Österreich im Ernstfall genützt hätte, wäre der Kalte Krieg heiß geworden, zeigen Pläne aus dem Archiv des Warschauer Paktes: Bei einer nuklearen Auseinandersetzung hätten auch auf Wien zwei sowjetische Atombomben abgeworfen werden sollen, Bündnisfreiheit hin oder her.

Interessanterweise war die österreichische Bevölkerung aber viel entspannter als ihre westdeutschen Nachbarn, sagt Ruggenthaler: "In der BRD war die Angst vor einem nuklearen Ernstfall am Höhepunkt des Kalten Krieges deutlich größer als in Österreich – als hätte uns die Neutralität sogar vor einem atomar geführten Krieg geschützt." (David Rennert, 26.10.2022)