Die Wellenfunktion liefert die mathematische Beschreibung von Quantensystemen. Aber was sie tatsächlich über die Realität aussagt, ist nach wie vor ungeklärt.
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Reinhold Bertlmann konnte seinen Augen kaum trauen, als eines Morgens im März 1981 sein Kollege am Institut für theoretische Physik der Universität Wien aufgeregt mit einer Kopie der neuesten Ausgabe des "Journal de Physique Colloques" herangeeilt kam. Die Publikation stammte vom berühmten irischen Physiker John Bell, bei dem Bertlmann Jahre zuvor als Postdoc am europäischen Kernforschungszentrum Cern tätig gewesen war. Merkwürdig an der Publikation war nicht nur, dass darin eine von Bell angefertigte Handzeichnung von Bertlmann enthalten war, was für eine physikalische Fachpublikation freilich eher ungewöhnlich ist. Auch der Titel der Arbeit haute Bertlmann förmlich aus den Socken: "Bertlmann’s socks and the nature of reality".

Reinhold Bertlmanns Socken sind inzwischen weit über die Grenzen der Physik hinaus legendär. Bis heute wird der Wissenschafter, der inzwischen pensioniert ist, aber nach wie vor in Wien tätig ist, von Kollegen oder auch von Unbekannten angesprochen, die einen Blick auf seine Socken erhaschen wollen. Zahlreiche Bücher und Aufsätze führen seine Socken im Titel. Es gibt auch einen Anbieter für T-Shirts und Hoodies mit dem Sockenmotiv.

In der Arbeit "Bertlmann's socks and the nature of reality" im Fachblatt "Journal de Physique Colloques" zeichnete John Bell seinen früheren Postdoc Reinhold Bertlmann.
Zeichnung: John Bell

Socken als Metapher

John Bell, der 1990 überraschend verstarb, nutzte Bertlmanns Angewohnheit, stets Socken unterschiedlicher Farben zu tragen, als Metapher, um die quantenmechanische Verschränkung anschaulich zu machen: Sieht man Bertlmann um die Ecke kommen und erspäht dabei, dass seine linke Socke pink ist, weiß man instantan, dass die andere Socke nicht pink ist – auch wenn man noch nicht die Möglichkeit hatte, diese zu sehen, weil sie sich noch hinter der Ecke verbirgt.

Das Gedankenexperiment von Schrödingers Katze veranschaulicht die quantenphysikalische Eigenschaft des Überlagerungszustandes – die in einer Kiste befindliche Katze ist in einer Überlagerung zwischen tot und lebendig. Erst wenn man in die Kiste blickt, wird der Zustand der Katze determiniert. Bertlmanns Socken treiben das Spiel noch weiter: Jede Einzelne der beiden Socken befindet sich, solange er nicht beobachtet worden ist, in einer Überlagerung von pink und nichtpink. Sobald eine der verschränkten Socken beobachtet wird, wird nicht nur deren Zustand determiniert, sondern auch jener der anderen – noch unbeobachteten – Socke.

Der irische Physiker John S. Bell fand eine Möglichkeit, um eine vermeintlich philosophische Frage zur Beschaffenheit der physikalischen Realität in einem Experiment zu entscheiden.
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Jenseits der klassischen Welt

Ziemlich verrückt, oder? Aber wozu soll das alles gut sein?

Wahrscheinlich für nichts. Das dachte sich jedenfalls ein junger Anton Zeilinger, als er sich in den 1970er-Jahren in John Bells Ansatz vertiefte, der Quantenverschränkung mit einem experimentellen Ansatz beizukommen. Das Phänomen erkannt hatten bereits Albert Einstein und Erwin Schrödinger Mitte der 1930er-Jahre. Bereits sie hatten festgestellt, dass die quantenmechanische Verschränkung das Potenzial hatte, herkömmliche Vorstellungen von Raum und Zeit, letztlich auch unser Verständnis von Realität, zu sprengen.

Einstein wollte das nicht wahrhaben und bezeichnete die Verschränkung abwertend als "spukhafte Fernwirkung". Schrödinger wusste mit der Sache nicht viel anzufangen, erkannte aber die Relevanz der Verschränkung – und prägte ihren Namen. Niels Bohr wiederum begrüßte die Verschränkung ganz vorbehaltlos, wenn auch er keine handfesten Argumente vorbringen konnte, die zu einem wissenschaftlichen Konsens führen konnten.

Der Österreicher Anton Zeilinger wird für seine grundlegenden Beiträge zur Quantenphysik mit dem diesjährigen Physiknobelpreis ausgezeichnet – gemeinsam mit dem US-Amerikaner John Clauser und dem Franzosen Alain Aspect.
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Shut up and calculate

Wenige Jahre später brach der Zweite Weltkrieg aus. Viele Physiker und Physikerinnen wurden für militärische Projekte und anwendungsnahe Forschung herangezogen. Die tiefgreifenden Debatten von Einstein, Schrödinger und Bohr wurden als nutzlose Philosophie abgetan, und die Doktrin "Shut up and calculate!" setzte sich durch.

Einen Paukenschlag stellte John Bells erste Arbeit zum Thema dar. Es war jedoch ein Paukenschlag, den kaum jemand vernahm. 1964 nahm Bell in der Arbeit mit dem Titel "On the Einstein Podolsky Rosen Paradox" die Gedankenstränge, die 30 Jahre zuvor Einstein, Schrödinger und Bohr umgetrieben hatten, wieder auf. Bell war zu dieser Zeit im Bereich Quantenfeldtheorie am Kernforschungszentrum Cern tätig. Mit grundlegenden Fragen der Quantenphysik beschäftigte er sich am Wochenende – ohne sich darüber groß mit seinen Kollegen auszutauschen. Die Arbeit erschien in der ersten Ausgabe des damals neugegründeten Fachblatts "Physics", die wenige Ausgaben später wieder eingestellt wurde.

Bei verschränkten Teilchen bewirkt die Zustandsänderung eines Teilchens eine sofortige Zustandsänderung des verschränkten Partners – selbst wenn dieser weit entfernt ist.
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Wo Einstein irrte

Das Revolutionäre an Bells Arbeit war, dass er zeigen konnte, dass die vermeintlich philosophische Frage zwischen Einstein und Bohr, ob die Quantenphysik eine vollständige Theorie sei, experimentell entschieden werden kann. Bell schlug ein Set-up vor, mit dem sich testen lässt, ob die Verschränkung tatsächlich wie eine "spukhafte Fernwirkung" funktioniert, bei der die Messung eines Teilchens den Zustand des verschränkten Partners auch über weite Distanzen beeinflusst. Bells Vorhersage lautete: Die Quantenphysik liegt richtig, Einstein falsch.

Interessant an Bells Arbeit ist insbesondere, dass er zeigen konnte, dass entweder Einsteins Verständnis von Realität oder seine Vorstellung von Lokalität oder gar beides angesichts von Quantensystemen falsch sein musste.

Ob die Beiträge zur grundlegenden Fragen der Quantenphysik einmal praktische Anwendungen bieten könnten, war für die Pioniere des Feldes alles andere als klar. Heute werden basierend auf diesen Erkenntnissen Prototypen von Quantencomputern gebaut. Zuletzt bestaunten US-Präsident Joe Biden und die Gouverneurin von New York Kathy Hochul den von IBM entwickelten Quantencomputer.
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Was ist real?

Was ist genau damit gemeint? Die Lokalität ist rasch erklärt – es geht darum, dass es laut Einstein keine Fernwirkungen geben sollte, die sich schneller als Licht ausbreiten können. Mit der Realität ist es etwas komplizierter: Einsteins Verständnis von Realität wird heute manchmal als "naiver Realismus" bezeichnet. Er ging davon aus, dass Objekte bestimmte physikalische Eigenschaften haben – ganz unabhängig von unserer Beobachtung. Bohr argumentierte mit der Quantenphysik das Gegenteil: Zustände werden erst durch die Messung definiert.

Metaphorisch gesprochen ging es um die Frage, ob der Mond auch existiert, wenn keiner hinsieht. Bohr war der Ansicht, dass man diese Frage ohne Messung nicht beantworten könne (vorausgesetzt der Mond verhält sich quantenmechanisch und ist zureichend isoliert). Einstein sagte hingegen sinngemäß: Das ist doch absurd, natürlich existiert der Mond unabhängig davon, ob jemand hinsieht!

Anton Zeilinger im Interview mit Nobelprize.org, kurz nachdem er von der prestigereichen Auszeichnung erfahren hat.
Nobel Prize

Hippies als Retter

Bell zeigte, dass diese Vorstellung von Realität offenbar zu kurz greift oder es zumindest allerlei Zusatzannahmen braucht, um Realität in dieser Form doch noch retten zu können. Das klingt revolutionär – und ist es auch. Als Bells Arbeit erschien, nahm sie zunächst dennoch kaum jemand zur Kenntnis.

Interesse kam von einer Gruppe, von der man es vielleicht weniger erwarten würde: Hippies. In seiner 2011 erschienenen wissenschaftshistorischen Studie "How the Hippies Saved Physics" rekonstruierte David Kaiser, Professor für Physik und für Wissenschaftsgeschichte am Massachusetts Institute of Technology, wie eine Gruppe von Hippie-Physikstudierenden im Kalifornien der späten 1960er- und angehenden 1970er-Jahre fundamentale konzeptuelle Fragen der Quantenphysik erneut in den Blick nahmen.

John Clauser gelang mit Stuart Freedman das erste Experiment zu Bells Theorem. Dieses Foto wurde am 4. Oktober aufgenommen – kurz nachdem Clauser erfahren hatte, dass er mit dem diesjährigen Physiknobelpreis ausgezeichnet wird.
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Neue Wege

Wie es dazu kam, beschreibt Kaiser wie folgt: "Aus verschiedenen Gründen konnten sie ihre Karrieren in der Wissenschaft nicht so fortsetzen, wie ihre eigenen Lehrer das getan hatten. Sie mussten neue Wege einschlagen und eine neue Art finden, Physik zu betreiben." Dabei interessierten sie sich nicht nur für esoterische Phänomene, sondern widmeten auch Bells Arbeit und der Quantenverschränkung die ihr gebührende Aufmerksamkeit.

Zwar lieferte die Gruppe selbst keinen experimentellen Nachweis für die Verschränkung, jedoch schuf sie ein Umfeld, das andere Physiker zum Nachdenken anregte. "Die San-Francisco-Gruppe hat lange vor anderen erkannt, wie faszinierend und bahnbrechend Bells Arbeit ist. Und sie war eine Art Katalysator, der einige Physiker dazu brachte, sich mit der Verschränkung zu beschäftigen, wodurch der Grundstein für die Quanteninformationstechnologie gelegt worden ist", sagt Kaiser.

Der französische Quantenphysiker Alain Aspect erhält gemeinsam mit John Clauser und Anton Zeilinger den diesjährigen Physiknobelpreis.
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Akademische Widerstände

Ein Pionier war dabei John Clauser, der 1942 in Pasadena, Kalifornien, geboren wurde. Er war kein fixes Mitglied, aber doch regelmäßiger Besucher der San-Francisco-Hippie-Gruppe, die sein Interesse für die Quantenverschränkung weckte. Trotz akademischer Widerstände setzte sich Clauser in den Kopf, Bells Vorschlag in die Tat umzusetzen, und tatsächlich gelang es ihm mit Stuart Freedman im Jahr 1972 erstmals, die Gültigkeit der Quantenphysik in einem Bell-Test zu demonstrieren.

Zehn Jahre später konnte der Franzose Alain Aspect ein noch präziseres Experiment zu Bells Theorem vorlegen. Vor allem Aspects Beitrag war entscheidend, damit die Quantenverschränkung in der Fachwelt langsam Anerkennung erfuhr. Gemeinsam mit dem Österreicher Anton Zeilinger, der einer der Ersten war, der verschränkte Zustände für verschiedene Experimente nutzte, ist das Trio der diesjährigen Physiknobelpreisträger komplett: Sie konnten experimentell nachweisen, dass Einsteins Vorstellung von lokalem Realismus zu kurz greift. Wie genau die Realität beschaffen ist, in der wir leben, dazu gibt es aber noch einige offene physikalische und philosophische Fragen. (Tanja Traxler, 26.10.2022)