Im Gastkommentar warnt die georgische Politikerin und Diplomatin Salome Samadaschwili: "Appeasement führt nur zu weiterer Aggression." Die Ukraine brauche "einen tragfähigen, langfristigen Frieden".

Begann 2008 einen Krieg in Georgien und besetzte einen Teil des Landes: Wladimir Putin.
Foto: EPA / Sputnik / Kreml / Alexei Babushkin

Kriege sind leichter zu beginnen als zu beenden, und ihr Ende folgt selten einem vorgegebenen Drehbuch. Wenn man aber der Aggressor ist, ist ein klarer Nullsummensieg kaum eine Option.

Da ein Ende des russisch-ukrainischen Krieges jedoch nicht in Sicht ist, werden im Westen die Rufe lauter, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin einen "gesichtswahrenden Ausweg" aus dem Konflikt zu bieten. Die meisten dieser Argumente gehen von der unzutreffenden Annahme aus, dass Putin einen triftigen Grund für seinen Krieg hatte, der einen Frieden rechtfertigen würde, der die Souveränität der Ukraine ein weiteres Mal gefährdet.

Putins Zorn

Der Nato-Gipfel 2008 in Bukarest soll Putins Zorn erregt haben, weil Georgien und der Ukraine die Aussicht auf eine mögliche Mitgliedschaft im Bündnis eingeräumt wurde. Allerdings wurde für keines der beiden Länder ein Aktionsplan für die Mitgliedschaft vorgelegt, da Deutschland und Frankreich ihre Unterstützung verweigerten.

Während die Nichtentscheidung der Nato Putin signalisierte, dass er alles in seiner Macht Stehende tun sollte, um solche Zusagen unmöglich zu machen, bot ihm die Zurückhaltung Frankreichs und Deutschlands die Gelegenheit, einen Keil zwischen die Mitglieder des Bündnisses zu treiben. Er ergriff sie, indem er 2008 einen Krieg in Georgien begann und ein Gebiet besetzte, das bis heute unter russischer Kontrolle steht. Zum Leidwesen der Welt ging dieser Schachzug auf: Die meisten Nato-Mitglieder zogen sich endgültig von der politischen Unterstützung des Beitrittsprozesses für Georgien und die Ukraine zurück.

"Als Botschafterin Georgiens bei der Europäischen Union zwischen 2005 und 2013 wurde mir von hochrangigen europäischen Politikern oft gesagt, dass Russland es niemals wagen würde, die Krim zu annektieren oder in die Ukraine einzumarschieren."

Die Welt stünde heute wahrscheinlich ganz anders da, wenn der Bukarester Gipfel Georgien und die Ukraine tatsächlich auf den Weg zur Nato-Mitgliedschaft gebracht hätte. Der Westen hätte auf den Einmarsch in Georgien mit mehr als nur Erklärungen reagiert, und der Ukraine wäre das heutige Blutvergießen höchstwahrscheinlich erspart geblieben.

Das ist aber nicht geschehen. Während georgische Beamte 2008 bis 2009 davor warnten, dass die Straffreiheit für Russlands Invasion und Landnahme zu weiteren Aggressionen gegen die Ukraine und andere Länder führen würde, warf man ihnen vor, paranoid oder nur um ihr eigenes politisches Überleben nach einem desaströsen Krieg besorgt zu sein. Als Botschafterin Georgiens bei der Europäischen Union zwischen 2005 und 2013 wurde mir von hochrangigen europäischen Politikern oft gesagt, dass Russland es niemals wagen würde, die Krim zu annektieren oder in die Ukraine einzumarschieren.

Unselige "Reset"-Initiative

Die EU ignorierte nicht nur unsere Bitten um Sanktionen und eine Überarbeitung ihrer von Russland abhängigen Energiestrategie; einige europäische Beamte begannen sogar, sich für Russland zu entschuldigen. Als die EU eine unabhängige internationale Untersuchungskommission zum Georgien-Konflikt einrichtete, manipulierte Russland den Abschlussbericht erfolgreich im Sinne seiner eigenen Interessen. Dann trat die Regierung von US-Präsident Barack Obama ihr Amt an und verfolgte ihre unselige "Reset"-Initiative mit Russland, mit der sie unmissverständlich signalisierte, dass Putin für den Beginn eines Krieges zur Aufteilung Georgiens nicht zur Rechenschaft gezogen werden würde.

Im Jahr 2012 wurde der georgische Präsident Micheil Saakaschwili, den Putin oft als persönlichen Feind bezeichnete, abgewählt. Einige im Westen werteten seine Niederlage als Zeichen dafür, dass die Beziehungen zu Russland weiter normalisiert werden sollten.

Strategischer Fehler

Damals schien niemand zu bemerken, dass Saakaschwilis prowestliche Regierung durch eine russlandfreundliche Oligarchie ersetzt wurde, die Georgiens Fortschritte auf dem Weg zur Demokratie und zur Integration in den Westen seither abgewürgt hat. In den letzten zehn Jahren hat die georgische Regierung Projekte von großer strategischer Bedeutung für die Nato in der Schwarzmeerregion – wie den Tiefseehafen von Anaklia – untergraben, während sie die Ukraine in ihrem Überlebenskampf nur halbherzig unterstützt hat.

Auch die Entscheidung Deutschlands, die Nord-Stream-2-Pipeline voranzutreiben – zunächst nach Putins Einmarsch in Georgien und dann erneut nach seiner illegalen Annexion der Krim –, erweist sich heute als völlig unbedachter strategischer Fehler. All diese Fehltritte haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen. Wie US-Präsident Joe Biden kürzlich warnte, ist die Aussicht auf ein nukleares "Armageddon" heute größer als seit der Kuba-Krise, die diese Woche vor 60 Jahren stattfand.

"Der Westen darf nicht die Fehler wiederholen, die er 2008 gemacht hat, als er praktisch nichts gegen Putins Angriffskrieg gegen Georgien unternahm."

Während der Westen über seine Möglichkeiten zur Vermeidung eines dritten Weltkriegs nachdenkt, darf er nicht die Fehler wiederholen, die er 2008 gemacht hat, als er praktisch nichts gegen Putins Angriffskrieg gegen Georgien unternahm. Mit der Behauptung, große Teile des ukrainischen Territoriums durch Scheinreferenden annektiert zu haben, und der Behauptung, die Ukraine sei kein richtiger Staat, hat Putin kein Hehl aus seinen eigentlichen Absichten gemacht. Doch nach Ansicht derer, die Friedensverhandlungen fordern, könnte Putin mit dem Fortbestehen eines ukrainischen Rumpfstaates "versöhnt" werden, wenn er dadurch die illegal annektierten Gebiete behalten kann und wenn die Nato sich verpflichtet, die Ukraine niemals aufzunehmen.

Solche Argumente sind Musik in Putins Ohren. Er setzt darauf, dass ein kalter Winter, hohe Energiepreise und Kriegsmüdigkeit die Einigkeit des Westens untergraben und die Sirenen des Appeasements unwiderstehlich machen werden. Je geringer die Chancen für einen rechtzeitigen militärischen Sieg (auf beiden Seiten) sind, desto größer ist der Anreiz für westliche Diplomaten, zu intervenieren und die Ukraine zu Verhandlungen und einer Einigung zu bewegen.

"Appeasement führt nur zu weiterer Aggression."

Doch der Georgien-Krieg 2008 und die Annexion der Krim 2014 sollten inzwischen bewiesen haben, dass ein Appeasement nur zu weiterer Aggression führt. Die einzige Möglichkeit für den Westen, den Frieden zu sichern, besteht darin, die Einheit aufrechtzuerhalten und die Ukraine militärisch, wirtschaftlich und diplomatisch zu unterstützen, bis sie ihr gesamtes Territorium zurückerobert hat.

Das bedeutet, dass wir Putins nuklearen Drohungen – die den Beigeschmack der Verzweiflung haben – nicht nachgeben und keine kurzfristigen Deals dulden, die ihm helfen, die Illusion eines Sieges zu erzeugen. Wie ein halb behandelter Krebs wird sich Russland einfach neu formieren und noch aggressiver zurückschlagen, wenn Putin besänftigt wird.

Langfristiger Frieden

Die Ukraine hat bereits einen hohen Preis für ihre Freiheit gezahlt – und für die Sache der Freiheit überall. Das Mindeste, was der Westen tun muss, ist, dem Land eine Chance zu geben, einen tragfähigen, langfristigen Frieden zu sichern. Das fängt damit an, die Ukraine nicht an diejenigen zu verkaufen, die ihr das Existenzrecht absprechen. (Salome Samadaschwili, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 29.10.2022)