War es eine missglückte Protestaktion oder nur ein Versehen? Eine Intrige gar oder einfach eine unfassbare politische Dummheit? Die Hintergründe eines kritischen Briefes progressiver US-Demokraten zu Joe Bidens Ukraine-Politik blieben auch einen Tag nach der plötzlichen Rücknahme des Schreibens im Dunkeln. Klar scheint nur, dass der linke Parteiflügel mit der Aktion zehn Tage vor den schicksalhaften Kongresswahlen ein gewaltiges Eigentor geschossen hat.
Am Montag war im Weißen Haus ein von 30 der 220 demokratischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus unterzeichneter Brief eingegangen, der rasch Wellen sogar bis nach Deutschland schlug, wo er etwa von der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen als "richtige und wichtige Initiative" begrüßt wurde. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, zu denen die linken Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez und Ilhan Omar gehören, loben zunächst die bisherigen US-Hilfen für die Ukraine, legen Präsident Biden aber zugleich eine Kursänderung nahe: So müsse die Unterstützung für das von Russland überfallene Land mit "proaktiven diplomatischen Vorstößen" verbunden werden, um "einen realistischen Rahmen für eine Waffenruhe zu finden".
Parteifreunde der Unterzeichner rieben sich verwundert die Augen. Hatte Russlands Präsident Wladimir Putin nicht gerade mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht und demonstriert, dass er keinerlei Interesse an einer diplomatischen Lösung hat? "Dieser Brief ist ein Olivenzweig für einen Kriegsverbrecher, der seinen Krieg verliert", empörte sich der Abgeordnete Jake Auchincloss aus Massachusetts.
Ungewöhnliches Vorgehen
Auch andere moderate Demokraten waren befremdet, zumal gerade der Minderheitenführer der Republikaner, Kevin McCarthy, massive Zweifel an der Zuverlässigkeit des US-Engagements geweckt hatte, als er sich gegen einen "Blankoscheck" für die Ukraine aussprach. Die demokratische Abgeordnete Abigail Spanberger hatte die Republikaner deshalb im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) scharf kritisiert und vor "katastrophalen Folgen für die globale Sicherheit" gewarnt, falls sich die Isolationisten des Trump-Flügels bei den Midterms durchsetzen.
Bald zogen auch Unterzeichner des Briefes ihre Unterstützung zurück. Er habe den Entwurf im Juli gesehen und unterschrieben und wisse nicht, warum das Schreiben jetzt veröffentlicht werde, erklärte etwa der Abgeordnete Mark Pocan. Offenbar stammt die erste Fassung bereits aus dem Juni, wurde dann in den kommenden Monaten teilweise verändert und um Unterschriften ergänzt, ohne dass die Erstunterzeichner davon in Kenntnis gesetzt wurden. Ein – gelinde gesagt – ungewöhnliches Vorgehen.
Kehrtwende und Entschuldigung
Die Vorsitzende der progressiven Gruppe, die Abgeordnete Pramila Jayapal, ruderte dann am Dienstag zunächst zurück und relativierte das Schreiben mit einer Klarstellung. Doch damit war die Aufregung nicht einzufangen. Später zog sie den Brief einfach ganz zurück. "Als Vorsitzende der Gruppe übernehme ich die Verantwortung dafür", erklärte Jayapal, schob aber den Schwarzen Peter rasch anderen zu. Das Schreiben sei vor Monaten vorbereitet worden und nun von Mitarbeitern ohne Freigabe verschickt worden, behauptete die Linken-Sprecherin. In einer bemerkenswerten Kurswende versicherte Jayapal, die Demokraten seien sich völlig einig in der "vorbehaltlosen Unterstützung für die Ukraine". Sie ergänzte: "Jeder Krieg endet mit Diplomatie – so auch dieser, nach einem ukrainischen Sieg."
Vielsagend ist neben der überraschenden Kehrtwende vor allem die Entschuldigung Jayapals für das "unglückliche Bild", das in der Öffentlichkeit entstanden sei. Sie spielte dabei nicht auf den Inhalt, sondern auf das Umfeld der Kritik an. Durch die zeitliche Nähe zu den Aussagen von McCarthy sei der Eindruck entstanden, dass die Demokraten irgendwie verbündet seien "mit Republikanern, die den Stecker bei der amerikanischen Hilfe für Präsident Selenskyj ziehen wollen".
Dass die kopflose Aktion den Demokraten Punkte bei den Wählern bringen wird, glaubt in Washington niemand ernsthaft. Selbst der linke Senator Bernie Sanders distanzierte sich inzwischen: "Ich stimme dem nicht zu." Für die Republikaner bietet sie hingegen eine willkommene Ablenkung von der Zerrissenheit der eigenen Partei beim Ukraine-Thema. "Die Demokraten sind in den Krieg gestürmt", twitterte Donald Trumps Ex-Botschafter Richard Grenell: "Sie haben niemals harte Diplomatie versucht – und wollen es immer noch nicht." (Karl Doemens aus Washington, 26.10.2022)