Galaxien wie die Spiralgalaxie IC 5332, hier auf einem vom Webb-Teleskop aufgenommenen Bild, rotieren zu schnell. Als Grund dafür wird ein mysteriöser Stoff namens Dunkle Materie vermutet.
Foto: ESA/Webb, NASA & CSA, J. Lee and the PHANGS-JWST and PHANGS-HST Teams via AP

Unwissenheit kann wehtun. Besserwisser sind unbeliebt, Menschen auf ihre Unwissenheit aufmerksam zu machen, gilt generell als beleidigend. Doch selbst in der Wissenschaft kann Unwissenheit fast ein Segen sein. Ein Beispiel ist die Physik: Viele der Probleme in der Grundlagenphysik drehen sich nicht um einen Mangel an Wissen, sondern um ein Übermaß davon.

Die Kritik etwa, die Albert Einstein zeit seines Lebens an der Quantentheorie äußerte, drehte sich um den zentralen Vorwurf, dass die Quantenphysik keinen Anspruch auf Vollständigkeit stellen dürfe. Es müsse unbestimmte Größen darin geben, versteckte Variablen, die es noch zu entdecken gilt. Erst eine Arbeit des irischen Physikers John Bell und die Arbeiten der diesjährigen Nobelpreisträger konnten zeigen, dass Einstein unrecht hatte. Mit diesem Ergebnis kämpft die Physik noch heute. Wie soll eine Theorie weiterentwickelt werden, die behauptet, alles zu wissen, und die nicht mit Experimenten widerlegt werden kann?

Dabei sind keineswegs alle Fragen der Physik gelöst. Vielmehr scheint es eine saubere Trennung zu geben: hier die Fragen, die beantwortbar sind, da die unbeantwortbaren. Der Austausch zwischen beiden Welten ist vielerorts zum Erliegen gekommen.

Zu vollständig?

Auch Einsteins großer Wurf, die allgemeine Relativitätstheorie, krankt an einer ähnlichen Eigenschaft: Sie ist zu vollständig. Bisher konnten keinerlei Abweichungen festgestellt werden. Doch halt – gibt es nicht verschiedene offene Fragen in der Astrophysik? Ein besonders anschauliches Beispiel ist das der Rotationsgeschwindigkeit von Galaxien. Sie ist deutlich zu schnell und sollte die Galaxien eigentlich zerreißen. Offenbar sind die Gravitationskräfte, mittels derer Galaxien zusammengehalten werden, größer, als es die Relativitätstheorie vorhersagt. Offenbar beschreibt die Relativitätstheorie das Universum also doch nicht ganz korrekt.

Die Antwort lautet, dass es zusätzliche, bislang nur theoretisch postulierte Konzepte gibt, die Ordnung in die astronomischen Beobachtungen bringen. Eines davon ist das der Dunklen Materie, die verschiedene Widersprüche in den Massenverteilungen des Universums lösen soll, unter anderem die falsche Rotationsgeschwindigkeit der Galaxien. Das Konzept beschreibt die simple Annahme, dass sich irgendetwas nahe ihres Zentrums befindet, das schwer genug ist, um die Fliehkräfte auszugleichen – Materie, die mit Teleskopen nicht sichtbar ist und als "dunkel" bezeichnet wird. Statt an der Relativitätstheorie zu zweifeln, wird also lieber ein neues Konzept eingeführt.

Den Gravitationslinsen kommt bei der Überprüfung alternativer kosmologischer Modelle eine zentrale Bedeutung zu. Sie entstehen, wenn massereiche Objekte wie Galaxien oder Galaxienhaufen den Raum krümmen und dahinterliegende Objekte verzerren.
Foto: EPA

Obwohl die Natur von Dunkler Materie noch völlig rätselhaft ist, ist sie in der Astrophysik so weit etabliert, dass sie Teil einer Art Standardmodell der Kosmologie ist, des ΛCDM-Modells, wobei der griechische Buchstabe Λ (Lambda) für die kosmologische Konstante steht (von der gleich noch die Rede sein wird), und die römischen Lettern für "Cold Dark Matter", also kalte Dunkle Materie – eine Form, die auf Wimps setzt. Damit sind Teilchen gemeint, die auf die Gravitation und die Schwache Wechselwirkung reagieren.

Berechtigtes Unbehagen?

Wem das Einführen von zusätzlichen Elementen zur Rettung einer Naturbeschreibung sonderbar vorkommt, der oder die befindet sich in guter Gesellschaft. Als Wolfgang Pauli 1930 das Neutrino postulierte, geschah das aus einer Not heraus. Sein Unbehagen darüber ist dokumentiert.

Könnte es also sein, dass etwa Dunkle Materie gar nicht existiert, sondern es sich um einen Fehler in der Relativitätstheorie handelt? Das gilt inzwischen als sehr unwahrscheinlich. Dunkle Materie ist fester Bestandteil der Astrophysik. Das bedeutet aber nicht, dass die Relativitätstheorie in Stein gemeißelt ist. Insbesondere auf sehr großen Skalen, etwa in Zeiträumen, die bis zum Urknall zurückreichen, sind Abweichungen nicht ausgeschlossen. Eine Gruppe von Forschenden aus Kanada, Großbritannien, China, Italien, Spanien und den Niederlanden hat nun im Fachjournal "Nature Astronomy" analysiert, welche alternativen Theorien zu ΛCDM die gängigsten kosmologischen Widersprüche am besten erklären. Mit im Rennen sind angepasste Varianten der Relativitätstheorie.

Es sind vor allem drei solcher Widersprüche, die die Astrophysik derzeit prägen. Einer davon nennt sich Hubble-Spannung. Es bezieht sich auf Messungen der Hubble-Konstante, die angibt, wie schnell sich das Universum ausdehnt. Es gibt verschiedene Methoden, diese Konstante zu messen. Einige davon nutzen Messungen ferner kosmischer Objekte, andere analysieren die kosmische Hintergrundstrahlung. Die Genauigkeit beider Methoden steigt laufend. Das Spannende daran: Sie liefern signifikant unterschiedliche Ergebnisse. Es ergeben sich also stark unterschiedliche Werte für die Hubble-Konstante.

Ein weiterer Widerspruch dreht sich um die Bildung von Galaxienclustern, während ein dritter eine zu starke Verzerrung des Musters der Kosmischen Hintergrundstrahlung durch die Schwerkraft von Galaxien betrifft. Eine neue Theorie sollte also nach Möglichkeit nicht nur eines dieser Probleme lösen, sondern am besten gleich alle drei. Doch die mathematische Formulierung dieses Anspruchs ist eine Herausforderung, der sich die Forschenden nun stellten.

Die kosmische Hintergrundstrahlung ist nicht homogen, sondern offenbart verschiedene Muster. Sie spielen eine wichtige Rolle bei den drei wichtigsten Widersprüchen der aktuellen Astrophysik. Hier sind Daten des Teleskops Bicep 2 dargestellt, die auf Gravitationswellen aus der Anfangszeit des Universums hindeuten.
Foto: APA/EPA/HARVARD UNIVERSITY / HAN

Alle Widersprüche auflösen

Das Team kombinierte dazu eine große Zahl aktueller astronomischer Beobachtungsdaten, darunter Daten des Mikrowellenhintergrunds des Planck-Satelliten, aber auch viele große Datensammlungen mit Beteiligung von Teleskopen auf der ganzen Welt, mit verschiedensten Vorhersagen von Alternativen zu ΛCDM. Insbesondere wurde die Expansion des Universums im Licht dieser Theorien betrachtet. Auf diese Weise gelang es abzuschätzen, welche Theorien die größte Chance haben, alle drei der genannten Widersprüche aufzulösen.

Ein markantes Ergebnis dieser hochtheoretischen Arbeit ist, dass Modifikationen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie keine gute Chance gegeben wird, die beobachteten Widersprüche zu erklären. Ähnliches gilt für Theorien, die bestimmte Formen der zeitlichen Veränderung der Dunklen Materie postulieren. Letztere haben generell Schwierigkeiten, die Hubble-Spannung zu erklären.

Das Team betont dennoch, man solle keine Gelegenheit auslassen, die Korrektheit der allgemeinen Relativitätstheorie auf großen Längen- und Zeitskalen zu testen. Man hält Überraschungen durchaus für möglich. (Reinhard Kleindl, 28.10.2022)