In der Corona-Pandemie wurden mehrmals Lockdowns und Social Distancing verordnet. Eine neue Studie untersucht, wie erfolgreich damit Todesfälle verhindert werden können.

Foto: © Christian Fischer

Der Lockdown: Dieses Wort kennt man hierzulande erst seit März 2020 so wirklich. Davor war es, wenn überhaupt, nur aus den USA bekannt, es bezeichnete Ausgangssperren im Zusammenhang mit Amokläufen oder Terroranschlägen. Doch seit der damalige Bundeskanzler Sebastian Kurz am Freitag, dem 13. März 2020, den ersten Lockdown in der Corona-Pandemie verkündete, ist das Wort in aller Munde – und erregt die Gemüter.

Unzählige mehr oder weniger hitzige Debatten haben sich daran entzündet. Gerettete Menschenleben und Spitalskapazitäten wurden den Folgen für die allgemeine Gesundheit und die Psyche gegenübergestellt. Mehr Kilos, mehr Alkoholkonsum, mehr psychische Belastungen sollen die Lockdowns verursacht haben. Als sinnlose Bevormundung haben sie Kritik hervorgerufen bis hin zur Spaltung der Gesellschaft.

In der heftigen Diskussion ist oft untergegangen, dass die Lockdowns ausschließlich dafür ausgerufen wurden, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Die Folge davon wäre nämlich ein Triagesystem gewesen, in dem Patientinnen und Patienten nach der Dringlichkeit ihrer Behandlung kategorisiert und versorgt werden. Politiker und Entscheidungsträgerinnen haben auf diesen Umstand immer wieder hingewiesen, gehört haben ihn viele nicht, die Diskussion war – und ist – vielfach auf die eigene Situation und Wahrnehmung fokussiert.

Keine Überlastung der Spitalskapazitäten

Ein weiterer Lockdown steht uns diesen Winter mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr ins Haus. Egal, welche Omikron-Subvariante sich durchsetzen wird, keine der derzeit etablierten scheint wieder schwerere Verläufe auszulösen. Außerdem ist die Immunität in der Bevölkerung durch Impfungen und Infektionen mittlerweile so groß, dass die Anzahl der Personen mit schweren Verläufen die Spitalskapazitäten ziemlich sicher nicht mehr überlasten wird – zumindest nicht aufgrund von Corona-Infektionen.

Angesichts der Emotionalität, mit der das Thema immer noch diskutiert wird, ist es aber wichtig, Lockdowns und ihr Potenzial, die Anzahl der Todesfälle in einer Pandemie zu lenken, wissenschaftlich zu untersuchen. Genau das passiert in einer Studie, die diese Woche im Fachblatt "Scientific Reports" der "Nature-Gruppe veröffentlicht wurde. In dem Paper wird die Wirksamkeit von Social Distancing an den Beispielen Österreich und Slowenien rückwirkend evaluiert, um wichtige Erkenntnisse zu gewinnen, wie man in Zukunft am besten mit ähnlichen Krisen umgeht.

Der Hintergrund: Frühere Studien, wie zum Beispiel hier und hier, haben gezeigt, dass Maßnahmen wie Lockdown und Social Distancing das Wachstum der Epidemie tatsächlich einschränken konnten. Die rasche Entscheidung, Schulen und Staatsgrenzen zu schließen und öffentliche Veranstaltungen auszusetzen, hat dazu beigetragen, Sterblichkeitsraten zu senken und Leben zu retten. Diese Studien haben sich auf Daten gestützt, die in der Frühzeit der Pandemie gesammelt wurden, als sowohl die Strenge als auch die Wirksamkeit der Maßnahmen sehr hoch waren.

Systemverhalten, das man intuitiv nicht versteht

Aber je länger die Pandemie dauerte, desto differenzierter wurde die Situation, es kam zu Wendenpunkten, an denen die Regierungen ihre vorherrschenden Regime änderten. Dazu kam, dass die dauerhafte Einschränkung sozialer Kontakte negative Folgen auf die Psyche hat, wie etwa hier untersucht wurde. Das führte unter anderem dazu, dass die Maßnahmen zum Social Distancing von der Bevölkerung nicht mehr in vollem Ausmaß eingehalten wurden. In diesem Zusammenhang stellte sich die Frage, ob Maßnahmen mit dem Ziel, Sozialkontakte über den gesamten Verlauf der Pandemie zu reduzieren, überhaupt zu den besten Ergebnissen führen. Anders ausgedrückt: Hätte weniger Social Distancing in gewissen Phasen der Pandemie vielleicht sogar die Gesamtzahl der Infektionen und Sterbefälle vermindert?

"In der Studie haben wir versucht, diesen zunächst wenig einleuchtenden Zusammenhang mathematisch zu erklären", sagt Christian Neuwirth vom Fachbereich Geoinformatik-Z_GIS an der Universität Salzburg und Hauptautor der Studie. Und er betont: "Das ist kein Vorhersagemodell. Es geht rein darum, Systemverhalten zu erklären, das man intuitiv leicht missinterpretieren könnte."

Als Grundlage für die Berechnungen wurde ein Kompartimentmodell verwendet, das bei Modellierern und Epidemiologen sehr etabliert ist, das SIRD-Modell. SIRD steht für susceptible, infected, resistant, deceased, also für das Virus anfällig, damit infiziert, dagegen immun, daran verstorben. Dieses Standardmodell wurde um drei Kompartimente erweitert, um der Komplexität der Lage gerecht zu werden: Hinzugefügt wurden die Daten für asymptomatisch Infizierte, da angenommen wird, dass diese auch andere infizieren können und so zur Ausbreitung der Krankheit beitragen. Und die Studienautoren haben zwischen zwei möglichen (hypothetischen) Todesarten unterschieden: jenen Todesfällen die passieren, obwohl die Erkrankten medizinisch behandelt werden, und Todesfällen, die nur deshalb auftreten, weil keine ausreichenden medizinischen Kapazitäten wie Intensivbetten oder Beatmungsgeräte mehr zur Verfügung stehen.

Wichtiger Einfluss der Saisonalität

Eine weitere wichtige Annahme, die die Autoren in die Studie einfließen ließen: dass die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung der Saisonalität unterliegt, also dass im Frühling und Sommer weniger Infektionen passieren als im Herbst und Winter. Die bisherige Erfahrung mit der Pandemie und den Infektionszahlen lässt diese Annahme gerechtfertigt erscheinen. "Aber wir können diesen Zusammenhang nur beobachten, kausale Erklärungen sind bislang umstritten", betont Neuwirth.

Das Modell wurde außerdem mit Mobilitätsdaten ergänzt: Wie viele Menschen sind zu Hause, am Arbeitsplatz, in Freizeiteinrichtungen, bei Einzelhändlern, an Busstationen oder in öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Daten sind unter "Google Community Mobility Reports" frei zugänglich.

Die Simulationen wurden mit und ohne Mobilitätseinschränkungen gegenübergestellt, um so den Effekt der Einschränkungen zu bewerten. Der Vergleich zeigte ganz klar: Zu Beginn der Lockdowns konnten die Maßnahmen die Sterblichkeit massiv reduzieren. Aber: Auf längere Sicht gesehen hat die Wirkung nachgelassen, die Sterblichkeit mit Social Distancing nähert sich laut Simulation mit der Dauer der Pandemie der Sterblichkeit ohne Social Distancing an.

Lockdown auf längere Sicht weniger erfolgreich

Eine weitere Erkenntnis: Das Nachlassen der Wirkung wurde umso ausgeprägter, je höher die Basisreproduktionsrate in der Simulation angenommen wurde. Neuwirth erklärt den Grund so: "Man kann dem Virus bei einer hohen Basisreproduktionsrate quasi nicht mehr ausweichen, weil dann die Kontaktreduktion nur eine Verschiebung der Infektionswelle bewirkt. Diese Verschiebung ist im vorliegenden Fall auch noch zusätzlich auf die Herbst- und Wintermonate mit höherem Infektionspotenzial entfallen." Besonders relevant ist dieses Ergebnis deshalb, weil mit der Entstehung neuer Virusvarianten im Verlauf der Pandemie auch die Basisreproduktion zugenommen hat.

Die Berechnungen haben außerdem gezeigt, dass ein besonders strenger Lockdown im Frühling den erzielten Erfolg in Bezug auf die Sterblichkeit im Herbst wieder umdrehen kann. Denn dann bleibt das Potenzial für Infektionen in der Bevölkerung sehr hoch. Im Herbst, wenn man sich wieder mehr in Innenräumen befindet und die Saisonalität des Virus zum Tragen kommt, kann das zu umso mehr Infektionen führen.

Der Schluss daraus: Drückt man eine Welle mit Lockdown-Maßnahmen im Frühling sehr effizient nach unten, bleibt das Infektionspotenzial in der Bevölkerung hoch. Bei der nächsten Welle im Herbst können sich, auch durch die Saisonalität, deshalb umso mehr Menschen infizieren. Es könnte deshalb besser sein, eine kleinere Welle im Frühling oder Sommer zuzulassen und dadurch mehr Menschen zu immunisieren, die dann im Herbst besser geschützt sind. So wird nämlich das Gesundheitssystem zu keiner Zeit überlastet, und zwei kleinere Wellen würden insgesamt wohl zu einer geringeren Infektionssterblichkeit führen als eine weggedrückte und eine in der Folge besonders hohe Welle.

Auf das Gesundheitssystem kommt es an

Was bedeuten all diese Berechnungen nun für die Beurteilung der Pandemiemaßnahmen? Das ist schwierig zu beantworten, sagt Neuwirth, da so viele unterschiedliche Parameter Erfolg oder Nichterfolg von Maßnahmen beeinflussen. Einer der wesentlichsten Faktoren ist die Kapazität des Gesundheitssystems. In Österreich, das mit sehr hohen Intensivkapazitäten ausgestattet ist, war das System auch im Herbst 2020, dank neuerlichen Lockdowns, nicht überlastet – auch wenn es an der Belastungsgrenze war. In Slowenien dagegen, wo es deutlich weniger Intensivbetten gibt, wäre es wahrscheinlich retrospektiv besser gewesen, im Frühling 2020 gar keinen oder nur einen leichten Lockdown zu machen.

Und Neuwirth betont: "Es gibt hier sehr viel aufzuarbeiten und zu erforschen, warum manche Strategien erfolgreicher waren als andere." Die für ihn interessanteste Zahl ist dabei die kumulative Übersterblichkeit über die gesamte Pandemie hinweg. Bei dieser sieht man, dass sich etwa Länder, die zu Beginn eine sehr hohe Übersterblichkeit hatten, im Verlauf der Pandemie an den europaweiten Durchschnitt angenähert haben.

Österreich liegt mit einer kumulativen Übersterblichkeit von gut acht Prozent im europäischen Mittelfeld. Die Schweiz mit weniger strengen Maßnahmen liegt geringfügig darunter, Schweden, das einen viel weniger strengen Weg gegangen ist, hat nur eine kumulative Übersterblichkeit von 4,9 Prozent. Woran das liegt, ist aber nicht ganz klar: "Es könnte sein, dass das Gesundheitssystem in Schweden besser funktioniert, dass die Menschen grundsätzlich disziplinierter sind, dass die Bevölkerung insgesamt etwas jünger ist. Es gibt viele Möglichkeiten für die unterschiedlich hohe Sterblichkeit in der Pandemie, unser Berechnungsmodell kann nur ein kleiner Teil der Erklärung dafür sein", betont Neuwirth. (Pia Kruckenhauser, 1.11.2022).