Nie war guter Ethikrat teurer als in der paradoxen Situation, in der sich die Republik unter schmerzlicher Anteilnahme ihrer Liebhaber nun Umkehr und Buße auf die rot-weiß-rote Fahne schreiben will. Möglichst proaktiv. Metanoia ist das Wort der Stunde, und da will der Ethikrat der ÖVP sein patriotisches Scherflein beitragen. Zehn Jahre ist es her, dass sich die Partei einem "Verhaltenskodex" unterworfen hat, der der Unterwerfung des Landes und ihrer Selbstunterwerfung unter das Regierungsverständnis eines Sebastian Kurz einst nicht im Wege gestanden ist. Daraus schöpfen die Parteiethiker unter Waltraud Klasnic nun die Kraft, Verstöße, die aus diesem Verständnis erwachsen sind, einer weitgehend ungeläuterten Parteileitung zur Ahndung vorzuschlagen, und das bis zu einem Parteiausschluss.

Vor zehn Jahre ist es her, dass sich die ÖVP einem "Verhaltenskodex" unterworfen hat.
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Man darf gespannt sein, wen es trifft. Karl Nehammer verfügt zwar über eine 100-prozentige Ermächtigung als Parteiobmann, seine politische Ermächtigung als Bundeskanzler hat er jedoch von seinem Vorgänger geerbt, wofür er den Segen des Bundespräsidenten in Anspruch nahm, auf den der Wählerinnen und Wähler aber bisher – und das noch möglichst lange – gern verzichtet. Seine Regierung, die Grünen eingeschlossen, existiert als Nachlass aus dem Regime von Kurz. Deshalb ist nicht zu erwarten, dass vom Ethikrat ernsthafte Selbstreinigungsimpulse ausgehen können.

Auch deshalb nicht, weil Nehammer blockiert. Sein stures "Die ÖVP hat kein Korruptionsproblem" ist aufrecht, und der Generalsekretär, den er sich in der Partei zugelegt hat, weist in dieselbe Richtung. Verstocktheit, inkarniert in Stocker! Mit dem Besteck des niederösterreichischen Parteiapparatschiks treibt er Mitdiskutanten, die Sauberkeit einfordern, vor laufender Fernsehkamera in Verzweiflung: Es gibt keine Korruption, und wenn doch, höchstens in Einzelfällen, die man auf keinen Fall verallgemeinern darf. Dass zu den Einzelfällen höchste Funktionäre zählen – egal. Da konterkariert die Parteispitze ihren Ethikrat, noch ehe er moralisch werden kann. Den wichtigsten Beitrag zur Selbstreinigung hat bisher die Mama von Thomas Schmid geleistet, als sie ihren Sohn aufforderte, zu dem zu stehen, was er – für Sebastian Kurz – getan hat. Mit dem Dank der Partei wird er dafür nicht rechnen dürfen.

Bei allem Respekt vor Klasnic und ihrem Bemühen um ethische Standards – soll Nehammer die ÖVP den Ansprüchen des Bundespräsidenten auch nur annähern, bedürfte es mehr als moralischer Tipps unter der Parteituchent. Noch ist das Berufsbild des Exorzisten nicht von feministischen Zumutungen angekränkelt, es wäre also für die ÖVP als christliche Partei auf der Schwundstufe keine Schande, sich zur Befreiung von bösen Geistern einem Professionisten anzuvertrauen. Die Besessenheit auszutreiben, unter der sie sich Kurz hingab, wird nicht leicht sein. Mit Laienexorzisten wie Claus Raidl, der fordert, die Partei "Kurz-frei" zu machen, kommt man da nicht weit, denn konsequent müsste sie da auch Nehammer-frei, Sobotka-frei, Wöginger-frei werden. Aber so weit soll die vom Bundespräsidenten geforderte Generalsanierung des Vertrauens auch wieder nicht gehen.

Die ÖVP hat Anspruch auf einen großen Exorzismus. Es geht schließlich um die Befreiung des Landes von bösen Geistern. Und den Messwein liefert Schelling. (Günter Traxler, 28.10.2022)