Anna Kleindienst-Jilly wartet am Hauptbahnhof. Jenem der Liliputbahn im Wiener Prater, die zum Unternehmen ihrer Familie gehört und zu Wien, fast so wie das Riesenrad. "Wollen Sie fahren?", fragt sie – und ja, wir wollen.

STANDARD: Sie sind ein Praterkind, wie Sie sagen. Weil Sie hier aufgewachsen sind?

Kleindienst-Jilly: (lehnt sich aus der fahrenden Liliputbahn) Ja, sehen Sie, in dem Haus dort, meine Mutter wohnt heute noch hier. Und ja, ich bin ein Praterkind, aber wir sind trotzdem nicht die klassische Praterfamilie.

Geschäftsführerin Anna Kleindienst-Jilly führt den Betrieb nach ihrem Großvater und ihrer Mutter in dritter Generation.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Weil Sie nicht wie die typischen Schausteller nur hier Ihre Fahrbetriebe haben und nur hier arbeiten, sondern zudem andere Berufe haben? Ihre Mutter, von der Sie 2019 die Geschäftsführung der Liliputbahn im Prater GmbH übernahmen, war Richterin und ist Mediatorin, Sie haben im Ausland BWL studiert und gearbeitet, Ihre Schwester beschäftigt sich mit Immobilien. Sie führen mit Ihrem Mann einen Reitstall, züchten und bilden Pferde aus und veranstalten Turniere.

Kleindienst-Jilly: Genau. Und wir haben hier einen zweiten Geschäftsführer, der täglich da ist. Ich bin nur zwei-, dreimal pro Woche im Prater.

STANDARD: Wie funktioniert hier die Konkurrenz? Prater-Unternehmerfamilien kennen einander seit Generationen, Ihrer Familie gehört die Liliputbahn seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Kleindienst-Jilly: Ja, wir kennen einander seit frühester Kindheit, oft heiraten Praterleute untereinander …

STANDARD: Sie nicht, Ihr Mann kommt aus einer anderen Branche und Sie betreiben das Equestrian Center Austria miteinander. Ihre zwei Lieblingspferde waren sogar bei Ihrer Hochzeit in Salzburg dabei …

Kleindienst-Jilly: Stimmt, das war eine Überraschung von meinem Mann. Aber zur Konkurrenz im Prater: Die gibt es natürlich, aber wir halten uns auch an besondere Praterregeln.

STANDARD: Die Prater-Compliance?

Kleindienst-Jilly: Eine Art Code of Conduct. Dazu gehört etwa, dass man keine gleichen oder ähnlichen Fahrgeschäfte nebeneinander baut. Wobei man schon sehen muss, dass jedes neue Fahrgeschäft neue Leute in den Prater locken kann.

STANDARD: Ihr Großvater war Textilhändler, einer seiner Kunden hatte ihm Geld geschuldet und ihm nach dem Zweiten Weltkrieg stattdessen seinen Anteil an der Liliputbahn abgetreten. Stimmt diese Geschichte?

Kleindienst-Jilly: Ja. Mein Großvater hatte den Krieg als Jude versteckt überlebt und dann auf diese Weise ein Viertel der Anteile bekommen und in den nächsten Jahren den Rest aufgekauft. Die Liliputbahn war seine große Leidenschaft.

In den 1970er-Jahren boten britische Geschäftsleute Jakob Passweg zwei Millionen Schilling für die zwei Liliput-Dampfloks. Der Großvater Anna Kleindienst-Jillys lehnte ab.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Die Liliputbahn-Gesellschaft mit allen Bahnen und Fahrgeschäften scheint unter Lockdown und Pandemie nicht sehr gelitten zu haben. 2020 lag die Bilanzsumme bei 2,6 Millionen Euro, der Bilanzgewinn bei 1,4 Millionen – nicht viel weniger als 2018. Wie war die heurige Saison, die Anfang November endet?

Kleindienst-Jilly: Sehr gut, eine der besten Saisonen, die wir je hatten, mit rund 200.000 Passagieren. Die Leute sind froh, dass sie wieder rausdürfen, und es kommen wieder mehr Touristen. Aber unter der Pandemie haben wir schon gelitten. 2019 lag der Umsatz bei vier Millionen, 2020 war dann das schlechteste Jahr, seit ich in der Geschäftsführung bin. Gerade im Frühling, unserer stärksten Zeit, war alles geschlossen. Wir haben aber extrem gespart und unsere Puffer genützt – und hatten das große Glück, dass die Liliputbahn im Lockdown der einzige Betrieb war, der weitermachen konnte: weil sie ein Verkehrsmittel ist.

STANDARD: Haben Sie viele Corona-Hilfen genutzt?

Kleindienst-Jilly: Ja, viel Kurzarbeit, Fixkostenersatz; was wir konnten, haben wir beantragt. Die Hilfen waren wertvoll, wenngleich sehr bürokratisch organisiert.

STANDARD: Waren Ihre Praterunternehmen, Reitbetrieb und Immobilienbereich gleich betroffen?

Kleindienst-Jilly: Nein, die Pferde am wenigsten. Ich hätte nie gedacht, dass die Pferde einmal unsere markanteste und verlässlichste Einnahmequelle sein würden. Denn die Einsteller haben die Pferde ja nicht verkauft, und die Preise blieben gleich. Mühsam war es trotzdem, denn in den ersten Wochen war der Stall geschlossen, und wir mussten zu zehnt jeden Tag 60 Pferde bewegen. Meine Mutter ist im Prater eingesprungen, und zum Glück war ich damals noch nicht schwanger.

STANDARD: Ihr Sohn ist jetzt eindreiviertel Jahre alt. Würden Sie sich wünschen, dass er das Pratergeschäft einmal übernimmt?

Kleindienst-Jilly: Er wird das frei entscheiden können, so wie das bei uns war. Entweder er übernimmt, weil es ihm Spaß macht, oder es macht jemand Externer weiter.

STANDARD: Ist die Liliputbahn Ihr größter Umsatzbringer im Prater?

Kleindienst-Jilly: Die Liliputbahn hat sich in den letzten Jahren extrem gut entwickelt, aber noch umsatzstärker waren heuer die Hohen Betriebe Aquagaudi und Dizzy Mouse.

STANDARD: Ah, das habe ich gelernt: Hohe Betriebe sind die Hochschaubahnen. Apropos: Ihr technischer Betriebsleiter produziert unter dem Titel "Praterkind" Lounge-Music. Gefällt Ihnen die?

Kleindienst-Jilly: Das wusste ich gar nicht. Er ist vielseitig begabt.

STANDARD: Ihre Lokführer brauchen eine spezielle Ausbildung, fürs Fahren der Dampfloks die Dampf- und Kesselwärterprüfung. Gibt es eigentlich den niederösterreichischen Zahnarzt noch, der am Samstag unbezahlt fährt?

Kleindienst-Jilly: Ja, ja, und es gibt noch ein paar andere Freiwillige, die ihre Leidenschaft fürs Lokfahren am Wochenende hier ausleben.

In der Remise mit der Adresse Prater 99.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Fahren Sie selbst auch?

Kleindienst-Jilly: Nein, ich weiß, was ich nicht kann.

STANDARD: Muss man als Praterkind viel Geschichte lernen? Erzählen die Großeltern den Enkelkindern die Familiengeschichten weiter? Den Prater gibt es ja schon seit 1766.

Kleindienst-Jilly: Da wird schon viel tradiert – bei uns in der Familie aber etwas weniger. Denn uns beschäftigen beruflich eben noch andere Dinge, und ich habe meine Großeltern nicht mehr gekannt.

STANDARD: Und Ihre wahre Leidenschaft gilt nicht den Dampfrössern, sondern den Pferden?

Kleindienst-Jilly: Ein bisschen was aus beiden Welten. Die Beschäftigung mit den Pferden und die mit den Praterbetrieben befruchten einander, die Pferde haben mich Geduld gelehrt, was ich auch hier brauchen kann. Vor allem haben sie mich gelehrt, selbst Verantwortung für alles zu übernehmen.

STANDARD: Weil nie das Pferd schuld ist an einem Fehler?

Kleindienst-Jilly: Genau. Man muss den Fehler bei sich selbst suchen, das hat meine Haltung sehr verändert. Ich lebe besser, wenn ich mir meiner Rolle bewusst bin, und das macht mich in bestimmten Situationen weniger ohnmächtig.

STANDARD: Briten haben Ihren Großeltern in den 1970er-Jahren zwei Millionen Schilling angeboten für die beiden Dampfloks. Sie haben abgelehnt. Was würde Sie weichmachen? Ein tolles Pferd gegen die Liliputbahn?

Kleindienst-Jilly: Um Himmels willen, nicht noch mehr Pferde! Wir haben schon so viele! Nein, ich könnte mir nicht vorstellen, die Liliputbahn aus unseren Praterbetrieben rauszuverkaufen. Wenn, dann würde ich eher das Gesamtpaket verkaufen. Wobei ich meinen Kindern ermöglichen will, mit den Praterbetrieben aufzuwachsen, weil das auch für uns so schön war.

Seit September werden die Dampfloks nicht mehr mit russarmer Kohle aus Großbritannien betrieben, sondern mit vermahlenen Olivenkernen aus Wales.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Seit September werden die Liliputbahn-Dampfloks statt mit Kohle mit vermahlenen Olivenkernen aus Wales befeuert. Das ist aber weniger dem Umweltschutz geschuldet als dem Faktum, dass Ihr britischer Kohlenhändler nicht mehr geliefert hat. Bleiben Sie jetzt bei der Olivenkern-Kohle?

Kleindienst-Jilly: Ja. Und der Umweltschutz beschäftigt uns immer: Unsere Techniker arbeiten schon lang an E-Loks – bis die einsatzbereit sind, wird es aber noch dauern.

STANDARD: Das gilt auch für die Wasserstoff-Lok, die Sie gemeinsam mit der ÖBB entwickelt haben?

Kleindienst-Jilly: Ja, wir hoffen, dass die Hydro-Lili dann bei unserem 100-Jahr-Jubiläum 2028 fahren kann.

STANDARD: Sie wollten die 3,9-Kilometer-Praterrunde der Bahn verlängern, das klappte aber nicht. Da geht es Ihnen wie den Liliputbahn-Gründern 1928: Die wollten bis zum Lusthaus fahren, die Stadt Wien trat aber die Grundstücke nicht ab. Und am Vivarium, der berühmten biologischen Versuchsanstalt am Anfang der Hauptallee, durfte die Strecke nicht vorbeiführen, weil die Forscher fürchteten, dass ihre Versuche gestört werden.

Kleindienst-Jilly: Da wissen Sie mehr als ich. Eine Verlängerung der Strecke ist nicht ganz vom Tisch, wäre aber eine sehr große Investition.

STANDARD: Den Prater gibt es seit 256 Jahren, wie bringt man Tradition und Erneuerung unter einen Hut? Sie haben Ihren Betrieben unter der Dachmarke "Lilis Welt" eine neue Corporate Identity gegeben: Reicht das?

Kleindienst-Jilly: Nein, der Prater erneuert sich ständig auf allen Ebenen. Die sehr aktive Vermarktung des Praters erfolgt in den sozialen Medien, das Angebot an Fahrgeschäften wird ständig angepasst – wobei das sehr teuer ist. Bei uns geht es um die Veränderung von Strukturen, was bei einem so alten, traditionsreichen Unternehmen mit langjährigen Beschäftigten schwierig ist. Eines meiner Hauptanliegen ist, dass sich die Mitarbeiter der Hohen Betriebe und die unserer diversen Bahnen als ein Team ansehen, sich bewusst sind, dass es um ein Unternehmen geht.

Der familieneigene Betrieb wird seit heuer unter der Dachmarke "Lilis Welt" vermarktet. Drittstärkster Umsatzbringer ist die Liliputbahn.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Apropos teure Investitionen: Was kostet eine Achterbahn?

Kleindienst-Jilly: Zehn, 15 Millionen Euro, wenn sie nicht ganz basic ist. Nach oben gibt es keine Grenzen.

STANDARD: Sind Pferde eigentlich die besseren Menschen?

Kleindienst-Jilly: Kommt drauf an, mit welchem Menschen man sie vergleicht.

(Renate Graber, 29.10.2022)