John F. Kennedy wählte in der Krise einen Weg, der diplomatischen Spielraum ließ. Dieser war am Ende erfolgreich.

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Warum Nikita Chruschtschow das mache, was ihn dazu bringe, Atomraketen auf Kuba zu stationieren, wollte John F. Kennedy von seinen Beratern wissen, an einem Oktobertag des Jahres 1962, an dem die Welt noch nicht ahnte, wie dicht sie am nuklearen Abgrund wandelte. "Was ist der Vorteil?", fragte er in die Runde. "Es muss doch irgendeinen wichtigen Grund geben für die Sowjets, dass sie es so angehen."

Bevor er die anderen zu Wort kommen ließ, versuchte der US-Präsident die Frage nach dem Motiv selbst zu beantworten. "Es muss so sein, dass sie nicht zufrieden sind mit ihren Interkontinentalraketen", zitiert ihn sein Biograf Robert Dallek. Maxwell Taylor, Generalstabschef der Streitkräfte, sah das ähnlich. Was sich Chruschtschow von alldem verspreche, sei eine Basis, von der sich mit Raketen kürzerer Reichweite auf die USA zielen lasse, damit die Sowjets ihr "ziemlich desolates" System ballistischer Interkontinentalraketen um eine neue Komponente ergänzen und Nachteile im Wettlauf der beiden Mächte ausgleichen könnten. Dean Rusk, der Außenminister, vermutete eine Falle: Moskau könnte es darauf angelegt haben, Washington so sehr zu reizen, dass es Kuba angreife, was der Kreml dann zum Anlass nähme, sich West-Berlin einzuverleiben.

928 Fotos beseitigen alle Zweifel

Seit dem 16. Oktober 1962 wusste Kennedy, dass sie stimmten, die bereits zuvor von einem republikanischen Senator namens Kenneth Keating gestreuten Gerüchte über die Stationierung sowjetischer Raketen auf der Karibikinsel. Am Morgen, gegen 8.45 Uhr, hatte sein Sicherheitsberater McGeorge Bundy die Privaträume des Weißen Hauses betreten, um ihm Luftbilder zu zeigen, die keinen Zweifel mehr ließen. 928 Fotos, aufgenommen aus 22 Kilometer Höhe von Kameras des Spionageflugzeugs U-2. Die Bilder dokumentierten, dass im Westen Kubas eine sowjetische Atomwaffenbasis entstand, praktisch vor der eigenen Haustür.

Kurz darauf beorderte Kennedy seine wichtigsten außen- und verteidigungspolitischen Berater sowie die Spitzen des Militärs in den Cabinet Room des Weißen Hauses. Die Runde, abgekürzt Ex Comm, was für Exekutivkomitee des Nationalen Sicherheitsrats steht, wurde auf amerikanischer Seite zum Krisenstab der Cuban Missile Crisis. Kennedy stellte in der Runde gleich zu Beginn die Frage nach Chruschtschows Motiv. In ihr bremste er Generäle, die wie im Reflex auf einen Militärschlag drängten, um die Abschussrampen zu zerstören, gefolgt von einer Invasion und dem Sturz der Regierung Fidel Castros.

Kennedy wählte einen anderen Weg, einen, der diplomatischen Spielraum ließ. Eine Seeblockade sollte mit Waffennachschub beladene sowjetische Schiffe mit Kurs auf die Insel zur Umkehr zwingen, während man zugleich darauf bestand, dass die bereits eingetroffenen Raketen abgezogen würden. Ein Szenario des Drucks, das Türen offenließ.

Der gefährlichste Tag

Am 22. Oktober wandte sich Kennedy übers Fernsehen an die Öffentlichkeit, womit diese erstmals aus erster Hand von dem Drama erfuhr. Der 27. Oktober sollte als der gefährlichste Tag des Nervenkriegs in die Annalen eingehen. Ein US-amerikanisches Aufklärungsflugzeug wurde über Kuba abgeschossen, dessen Pilot, der Koreakriegsveteran Rudolf Anderson, kam dabei ums Leben. Erneut drängten die Generäle auf massive Luftschläge, erneut wurden sie gebremst vom Commander in Chief, der auf eine definitive Antwort Chruschtschows wartete. Der sicherte schließlich zu, die Nuklearraketen zurückzuholen, womit der Konflikt nach 13 Tagen höchster Anspannung entschärft war.

Was folgte, waren Lobeshymnen auf Kennedy, der, so schien es, den Mann im Kreml zum Rückzieher gezwungen hatte, ohne selbst Zugeständnisse zu machen. "Eine Kombination aus Härte und Zurückhaltung, aus Willens- und Nervenstärke und Weisheit, so brillant kontrolliert, so unvergleichlich kalibriert, dass es die Welt verzauberte", schrieb der Historiker Arthur Schlesinger jr. Auch andere bastelten am Mythos des genialen Krisenmanagers, an einer Legende, die allerdings nur auf der halben Wahrheit beruhte.

Mit Besonnenheit zum klassischen Kompromiss

Denn zum einen agierte auch Chruschtschow auf dem Höhepunkt der Krise besonnen. Zum anderen war es ein klassischer Kompromiss, der die Kraftprobe beendete, verbunden mit US-amerikanischen Konzessionen, die nur eben nicht publik werden durften. Eingefädelt über geheime Kanäle, von denen der von Robert F. Kennedys zu Anatoli Dobrynin, dem sowjetischen Botschafter in Washington, der entscheidende war. Die USA, signalisierte der Bruder des Präsidenten, seien bereit, auf Atomraketen in der Türkei zu verzichten, wenn die UdSSR ihre Raketen aus Kuba abziehe. Vorausgesetzt, dass Chruschtschow in der Öffentlichkeit kein Wort darüber verliere.

Im Jahr 1958 wurde beschlossen, 15 Jupiter-Raketen in die Türkei zu bringen, wobei die geografische Nähe der Raketen in der Türkei zur Sowjetunion durchaus vergleichbar war mit der Nähe jener Raketen in Havanna zu Florida. Auch in Washington gab es Stimmen, die an der Weisheit der Jupiter-Entscheidung zweifelten. Der Demokrat Albert Gore, Vater des späteren Vizepräsidenten gleichen Namens, sprach – zwanzig Monate vor dem gefährlichen Atompoker – im Senatsausschuss für Auswärtiges von einer Provokation: "Ich frage mich, wie wir uns verhielten, würden die Sowjets Nuklearraketen in Kuba aufstellen."

Bestimmender Balanceakt

Der Balanceakt zwischen Festigkeit und Flexibilität, er bestimmt auch den heutigen amerikanische Diskurs, die Debatte um die Frage, was man Wladimir Putin, der offen mit dem Einsatz von Kernwaffen droht, am besten entgegensetzt. Kori Schake, einst Ratgeberin des konservativen Präsidentschaftskandidaten John McCain, zieht aus der Zitterpartie des Herbstes 1962 die Lehre, sich nicht beirren zu lassen, Putin die Antwort zu geben, die ihm die Ukrainer bereits gegeben hätten: "Dies wird am Ausgang des Krieges nichts ändern."

Wenn Joe Biden seine Angst öffentlich mache und davon spreche, dass man es heute wie seit der Kubakrise nicht mehr mit der Aussicht auf ein Armageddon zu tun habe, sei das die falsche Strategie, schreibt Schake in der Zeitschrift "The Atlantic": "Es würde Russland dafür belohnen, dass es nukleare Drohungen ausstößt." Nachdenkliche Töne schlägt David Ignatius an, außenpolitischer Chefkolumnist der "Washington Post". Wie Kennedy, mahnt er, müsse auch Biden klare Linien ziehen, zugleich aber wie Kennedy nach Wegen der Deeskalation suchen.

Eine Botschaft, die man Putin und dem russischen Volk senden müsse, allein schon deshalb, um dem russischen Opfer-Narrativ zu begegnen, laute: Der Westen strebe keine Vorherrschaft an, er wolle Russland gewiss nicht zerstören. "Eine Route hin zu gemeinsamer Nachkriegssicherheit zu skizzieren, wenn Russland seine Aggression beendet, das wäre vielleicht ein Anfang." (Frank Herrmann, 28.10.2022)