Elena Medels Debütroman liegt nun auf Deutsch vor.

Foto: Laura C. Vela / Suhrkamp-Verlag

Normalerweise ist es schon ein Wunder, wenn ein solches in der Einzahl auftaucht. In Elena Medels gleichnamigem Roman tauchen sie gleich im Plural auf: Die Wunder. Es ist der Betreff einer E-Mail, die die Nebenfigur Celia einer ehemaligen Schulkollegin, Inma, schreibt. Es geht darin um den lange zurückliegenden Besuch der beiden Mädchen bei einer Klassenkameradin.

Frieden und Flucht

Alicia, schon in jungen Jahren mit soziopathischen Tendenzen, hat sie zu sich nach Hause eingeladen. Inma und Celia sind arm, geschmacklos und billig gekleidet, unsicher, und Alicia will sie demütigen mit dem plumpen Reichtum, in dem sie und ihre Familie leben. Dann klingelt das Telefon. Alicias Mutter erfährt vom Unfall ihres Mannes, der ihn allerdings nicht getötet hat, weshalb er sich am nächstbesten Baum aufhängte. Mit seinen Restaurants, die all diesen Reichtum finanzierten, hatte er sich heillos verschuldet. Was Celia unter dem Betreff "Die Wunder" beschreibt, ist der Friede, den sie verspürte, als sie nach diesem Ausflug in die Geborgenheit ihres bescheidenen Zuhauses zurückkehrte.

Von diesem Frieden ist im restlichen Roman wenig zu spüren, die Protagonistinnen – neben Alicia ihre Mutter Carmen und deren Mutter María – sind Getriebene. Jede auf ihre Art, aber alle von der ökonomischen Machtlosigkeit, die ihnen in der patriarchalen spanischen Gesellschaft qua Geschlecht zugewiesen ist.

Elena Medel, "Die Wunder". € 24,50 / 221 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2022.
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Prekäre Verhältnisse

María, in mehr als ärmlichen Verhältnissen in Córdoba aufgewachsen, wird in den 1960er-Jahren schwanger. Viel zu jung, unehelich, eine Schande. Sie muss ihr Zuhause verlassen, findet in Madrid Arbeit als Dienstmädchen, erkämpft sich ein leidlich autonomes Leben – doch für ihre Tochter bleibt sie eine Fremde. Dennoch – oder gerade deswegen – tut Carmen es ihr gleich, wird als Teenager schwanger, bekommt neben Alicia noch eine zweite Tochter, lebt ein luxuriöses Leben und hat es scheinbar "geschafft". Bis sie nach dem Selbstmord des Ehemannes und Versorgers zurückfällt in jene prekären Verhältnisse, denen sie so unbedingt entkommen wollte.

Albträume und schneller Sex

Alicia schließlich, schon als Kind kalt und emotionslos, wird seit dem Tod ihres Vaters von Albträumen gequält: Jede Nacht sieht sie ihn am Baum hängen, nur ihre eigene Position variiert, und manchmal, selten, sieht sie statt des Gesichts des Vaters ihr eigenes. Alicias Leben, alles an ihr wirkt abgestumpft: der eintönige Job als "Schokoriegelverkäuferin" in einem Laden, der Reiseproviant anbietet. Ob sie keine Träume habe, wird sie von einem ihrer Chefs, immer Männer, immer jung, gefragt. Ihr fällt dazu nur ein blutiger, hängender Körper ein.

Nando, ihren Mann, hält sie, soweit möglich, auf Abstand, betrügt ihn wahllos mit Männern, die sie auf der Straße oder in Bars für schnellen Sex aufgabelt. Irgendwie scheint sie ihn zu mögen, aber geheiratet hat sie ihn nur, um ihm einen Gefallen zu tun und weil die Ehe ihr "diese triste Wohnung in einem tristen Viertel sicherte". Rücksicht auf seine Gefühle nimmt sie keine. Man wünscht dieser so verzweifelt kämpfenden, um sich schlagenden Alicia, sie hätte ihre Großmutter um sich gehabt, die genau wie sie in Madrid lebt: María, die ihr Leben lang hart gearbeitet hat – aber über ihren Freund Pedro auch den Weg in Bürgerinitiativen fand, in denen sie ihr politisches, letztlich ihr feministisches Bewusstsein entdeckte.

Die Frau als Anhängsel

María, die Pedro nach jahrzehntelanger wilder Ehe in getrennten Wohnungen verließ, weil er "wollte, dass wir zusammenzogen, und mir wurde klar, dass das nichts mit Liebe zu tun hatte. Ich war nicht María, eine Person, sondern etwas, ein Ding, als dessen Eigentümer er sich fühlen konnte: seine Wohnung, sein Wagen, seine Frau." In nüchterner, bisweilen beinah abweisender Sprache, sich dem einfachen Zugriff der Leserin fast absichtlich versperrend erzählt Medel von diesen Frauenleben, in denen die Frau Anhängsel sein darf, Geliebte, Ehefrau und Mutter, willfährige Arbeitskraft, aber sicher kein eigenständiges, denkendes Wesen, das nur für sich selbst lebt.

Die Wunder tauchen dennoch noch einmal auf, im letzten Kapitel, das mit dem ersten eine Klammer bildet: Darin nimmt María, bald 70-jährig, gemeinsam mit den Frauen ihrer Gruppe am großen Frauenstreik teil, der 2018 in ganz Spanien stattfand. Und kehrt am Ende, erschöpft, aber glücklich, in ihre Wohnung zurück, die ihr zwar nicht gehört, aber deren Miete sie mit ihrem selbst erarbeiteten Geld bezahlt, deren bescheidene Einrichtung die ihre ist. Es geht nicht um Besitz bei diesem Glück. Aber um so etwas wie Freiheit. Würde. (Andrea Heinz, 28.10.2022)