"Hallo, ich bin die Architektin!" So stellt sich Sophie Delhay vor, wenn sie die Mieterinnen und Mieter interviewt, um in Zukunft noch besser für sie zu planen.

Foto: Sophie Delhay Architecte

Im im zentralistischen Frankreich ist der soziale Wohnbau noch viel strenger, viel durchreglementierter ist als in Österreich.

Foto: Bertrand Verney

Delhay gelingt es immer wieder, die Norm zu durchbrechen und innovative Raumkonzepte zu realisieren.

Foto: Bertrand Verney

Nach zwei Jahren packt sie den Zeichenblock in die Tasche und fährt zu ihren Wohnhäusern in Paris, Lyon, Nantes, Dijon, Lille, Lens, Rouen, Bordeaux und Aix-en-Provence. "Hallo, ich heiße Sophie Delhay, ich bin die Architektin Ihres Hauses. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Ich würde mich mit Ihnen gerne über das Wohnen hier unterhalten." Und während die meisten Architekten, sobald sie ihre realisierten Projekte nach einiger Zeit besuchen, von den Mieterinnen und Mietern mit tropfenden Wasserhähnen und wackeligen Sesselleisten konfrontiert werden, bekommt Madame Delhay meist zu hören: "Ah, das sind Sie! Unglaublich!"

Und dann wird gesprochen, gezeichnet, gefilmt, fotografiert und nachgefragt. "In der Regel plane ich für Menschen, die ich nicht kenne, denn im sozialen Wohnbau werden die Wohnungen erst spät übergeben, wenn die Planung bereits abgeschlossen ist", sagt Delhay. "Also muss ich mir für ein abstraktes, undefiniertes Zielpublikum Lebenswerte und konkrete Wohnqualitäten überlegen. Manchmal liege ich richtig, und meine Ideen gehen auf. Und manchmal habe ich mich verkalkuliert, und dann muss ich die Daten aufnehmen, um es beim nächsten Mal besser zu machen."

Innovative Raumkonzepte

Teil der Dokumentation ist auch, dass jedes einzelne Möbelstück vermessen und in einem Plan eingezeichnet wird. "Natürlich grübelt man darüber, wie man eine Wohnung einrichten kann, aber, ganz ehrlich, wir Architektinnen und Architekten denken insgeheim in minimalistischen Möbeln und Designklassikern. Das entspricht nicht der Realität. Bei meinen Besuchen zwei Jahre nach Fertigstellung sehe ich, wie die Menschen wirklich wohnen. Das ist dann die Grundlage fürs nächste Projekt."

Und auch dieses wird es wieder in sich haben, das ist gewiss. Denn anstatt sich an den Kanon des sozialen, geförderten Wohnbaus anzupassen, der im zentralistischen Frankreich noch viel strenger, viel durchreglementierter ist als in Österreich, gelingt es Delhay immer wieder, die Norm zu durchbrechen und innovative Raumkonzepte zu realisieren – mit Schiebetüren, flexiblen Raumzonen, ungewöhnlichen Zimmerzuschnitten, versteckten Schrankwänden in der Fassade, kollektiven Loggien, Gemeinschaftsküchen und bis zu fünf Meter hohen Wohnzimmern.

"Der soziale Wohnbau ist eine gigantische Maschine, die von ein paar wenigen Playern am Markt gesteuert wird", sagt Delhay. "Die meisten Wohnungen sind auf Effizienz ausgerichtet, erfüllen lediglich die Mindeststandards und lassen ihren Mietern wenig Luft zur persönlichen Entfaltung. In diesem rigiden System etwas zu verändern ist schwierig – aber es geht! Bei den meisten Wohnbauträgern und Investoren bin ich dafür bekannt, eine Tête brûlée, ein brennender Kopf, zu sein. Doch mittlerweile erkennen die Developer den Mehrwert und wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie mich zu einem Projekt einladen."

Bewohnbarkeit des Planeten

Am Mittwochabend wurde Sophie Delhay, die mit ihrem nur achtköpfigen Büroteam schon seit 2008 gegen die französische Wohnbau-Maschinerie ankämpft und bereits ein mächtiges Œuvre umsetzen konnte, im Museum für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe mit den renommierten Schelling-Architekturpreis 2022 ausgezeichnet. Der mit insgesamt 30.000 Euro dotierte Preis wird biennal vergeben und richtet sich an herausragende Leistungen in der Architekturpraxis und Architekturtheorie. Heuer war er keinem geringeren Weltrettungsthema als der "Bewohnbarkeit des Planeten" gewidmet.

"Sophie Delhay ist eine Leitfigur in der Erneuerung des kommunalen Wohnungsbaus", sagt Jette Cathrin Hopp, Jurymitglied und Partnerin im norwegischen Architekturbüro Snøhetta, in ihrer Laudatio. "In einem Bereich des Bauens, der in ganz Europa nur noch minimale Freiheiten zu bieten scheint, weil er in den Zwängen der Bodenspekulation und der globalen Immobilienfinanzierung festgefahren ist, entwickelt Delhay attraktive Wohnalternativen – und somit konkrete Vorschläge, wie der Wohnbau aus seiner Sackgasse herausgeführt werden kann."

Der Schelling-Architekturpreis wurde 1992 von Heinrich Klotz und von der Karlsruher Bühnenbildnerin und Innenarchitektin Trude Schelling-Karrer ins Leben gerufen und erwies sich in den 30 Jahren seines Bestehens als wertvolle Talentbörse und Seismograf für andere, spätere Auszeichnungen wie etwa den Pritzker-Preis oder den Aga Khan Award. Zaha Hadid, Peter Zumthor, SANAA, Lacaton & Vassal, Wang Shu, Lu Wenyu und Diébédo Francis Kéré wurden von der Schelling-Architekturstiftung gewürdigt, lange bevor das internationale Parkett überhaupt auf sie aufmerksam wurde.

Weitere Nominierungen

Unter den weiteren Nominierungen – die bis zuletzt mitzittern durften und mussten, denn die finale Juryentscheidung fiel am Mittwochabend mehr oder weniger live coram publico – finden sich die spanische Kooperative LaCol aus Barcelona sowie das Leipziger Architekturbüro Summa cum Femmer.

LaCol umfasst rund 20 Mitglieder und ist auf Baugruppen und Partizipationsprojekte spezialisiert. Den größten und international meistbeachteten Erfolg erzielte die Gruppe mit dem Projekt La Borda, einem einfachen Holzbaukasten im Südwesten Barcelonas, der zu einem Wohnregal mit 38 Wohnungen und riesigen Gemeinschaftsflächen zusammengezimmert wurde. Summa cum Femmer wiederum hat ein kooperatives Wohnprojekt in München realisiert und werkelt in unbeirrbarer Manier an einem fast schon baufälligen Hinterholz 8-Gründerzeithaus in Leipzig-Plagwitz, um darin ein radikales Beispiel für Stadtreparatur und Kreislaufwirtschaft zu statuieren.

Hinschauen, für den Planeten

Thematisch dazu passt auch der Schelling-Preis für Architekturtheorie, der an die Mailänder Stadtplanerin und Architektin Paola Viganò vergeben wurde. Viganò, die an der IUAV Venedig und der EPFL Lausanne unterrichtet, engagiert sich seit vielen Jahren für ein offenes, sozial gerechtes Stadtmodell – und plädiert für eine Ablösung der Zentrumsfixierung und für eine ökologische Requalifizierung urbaner Territorien mit Grünzonen und Verknüpfungen.

Schöne, wichtige Wohn- und Gedankenhäuser für die Bewohnbarkeit des Planeten: Klingt alles sehr dramatisch, ist es angesichts der fortgeschrittenen Zeit aber auch. Ihr Entscheider, die ihr da oben sitzt in euren Corner-Offices und Vorstandsetagen, bitte hinschauen, danke. (Wojciech Czaja, 30.10.2022)