Die britische Kulturhistorikerin und Feministin Elinor Cleghorn erforscht jene Mythen, die seit über 2.000 Jahren dafür sorgen, dass Frauen und ihre medizinischen Probleme zum Teil bis heute nicht ernst genug genommen werden.

Foto: Lara Downie

Autoimmunerkrankungen sind Frauensache. 80 Prozent der Betroffenen sind nämlich weiblich. Und obwohl viele der Krankheiten mittlerweile medizinisch gut erforscht sind, braucht es immer noch einen oft jahrelangen Spießrutenlauf, bis frau eine Diagnose bekommt. Der Grund dafür: Ärzten fällt es vielfach immer noch schwer, bei diffusen Schmerzen oder unklaren Symptomen von Frauen an handfeste medizinische Ursachen zu denken.

Was in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts wahrlich absurd erscheint, kennt Elinor Cleghorn aus eigener Erfahrung. Die britische Kulturhistorikerin und Feministin leidet nämlich selbst an der Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes, einer rheumatischen Erkrankung, die alle Organe befallen kann. Jahrelang wurden ihre Symptome nicht richtig zugeordnet, dadurch wurde sogar die Herzgesundheit ihres ungeborenen Babys beeinträchtigt.

Dieses Phänomen der schlechten oder falschen Diagnose der Frau ist aber nicht neu. Im Gegenteil, es ist seit gut 2.000 Jahren in der Geschichte der Medizin verwurzelt. Cleghorn hat die Gründe dafür akribisch aufgearbeitet und erforscht in ihrem Buch "Die kranke Frau" zahlreiche Mythen der Medizingeschichte. Im STANDARD-Interview erzählt sie, warum Ärzte früher an eine wandernde Gebärmutter glaubten, wie die Krankheitserzählung von Frauen der systematischen Unterdrückung diente und warum sich das Phänomen in der aktuellen Transgender-Debatte womöglich wiederholt.

STANDARD: Viele Frauen werden, wenn sie Schmerzen oder unklare Symptome haben, von Ärzten schlecht oder falsch diagnostiziert, das ist schon seit vielen hundert Jahren so. Doch woran liegt das? Haben Ärzte den weiblichen Körper einfach nicht verstanden? Oder diente es auch der systematischen Unterdrückung?

Cleghorn: Ich denke, es ist eine Kombination aus beidem. Man konnte vieles einfach nicht diagnostizieren, die Medizin hat sich erst ab dem 18. und vor allem im 19. Jahrhundert zu der Wissenschaft entwickelt, die sie heute ist. Davor wusste man einfach nicht, was im Körper vorgeht, weil etwa das Sezieren erst spät zur Routine in der Medizin wurde, viele diagnostische Techniken fehlten. Gleichzeitig hatte man sehr spezifische Ansichten darüber, wozu Frauenkörper da sind und was Frauen mit ihren Körpern tun sollten. Da spiegelt sich eine umfassende, patriarchalische Idee wider, die in unserer westlichen Gesellschaft vorherrschte. Die Körper von Frauen existierten in erster Linie, um Kinder zu gebären, und diese Einstellung hat mit Sicherheit viele der frühen, grundlegenden Theorien der westlichen Medizin geprägt.

Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Ideen dann zum zentralen Grundsatz medizinischer Vorstellungen, wofür Frauenkörper da sind, und das wurde auch in medizinischen Schriften so widergegeben. Einige Autoren folgten wohl einfach den Geschlechternormen. Aber ich schreibe in meinem Buch auch über medizinische Autoren, die sehr frauenfeindlich waren. Klassifizierte man die Frau in erster Linie als reproduktives Wesen mit geringer geistiger Kapazität, das häufig unter bestimmten Störungen leidet, war das sehr nützlich zum Beispiel bei dem Versuch, Frauen davon abzuhalten, mehr Bildung zu erwerben, zu arbeiten, sich zu emanzipieren.

STANDARD: Gibt es konkrete Beispiele, wie falsche oder ungenaue Diagnosen zur Unterdrückung der Frau eingesetzt wurden?

Cleghorn: Das älteste Beispiel stammt schon von den alten Griechen. Sie glaubten, dass die Gebärmutter, wenn sie nicht zur Reproduktion genutzt wurde, im Körper umherwanderte. Sie dachten, der Uterus könnte gegen die Leber oder die Magenschleimhaut drücken – und erklärten so viele psychische Symptome. Und diese Vorstellung hat ganz lange nachgewirkt. Sogar als irgendwann durch die Wissenschaft der Anatomie nachgewiesen wurde, dass eine wandernde Gebärmutter physisch unmöglich ist, blieb die Vorstellung, dass die Gebärmutter massiven Einfluss auf die geistige und körperliche Gesundheit der Frau hat, erhalten.

Daraus entstand ab dem 17. Jahrhundert die Diagnose der Hysterie, eine ausschließlich weibliche Krankheit. Das altgriechische Wort für Gebärmutter lautet ja hystera. Es bedeutet, dass die Krankheitssymptome der Frau durch ihren emotionalen Zugang zur Welt beeinflusst sind. In Ermangelung ausreichenden Wissens war es natürlich sehr einfach zu sagen, dass eben die besondere emotionale Befindlichkeit der Frau für viele Krankheiten verantwortlich ist. Und ich denke, das ist zumindest teilweise der Grund dafür, dass viele Frauen ihren Körper noch immer nicht wirklich verstehen, nicht wissen, was in ihnen vorgeht. Und gleichzeitig hallt es bis heute in den Arztpraxen nach, wenn man Frauen, die von ihren Symptomen erzählen, nicht glaubt oder sie nicht wirklich ernst nimmt.

STANDARD: Warum hat sich dieser Zugang trotz immer mehr wissenschaftlichen Erkenntnissen so lange nicht geändert?

Cleghorn: Weil diese Mischung aus fehlendem Wissen und alteingesessenen Vorstellungen über Frauenkörper und die weibliche Biologie auch politisch genutzt wurde, etwa um den Kampf um Frauenrechte zu verhindern. Und das fehlende Wissen hat auch zu weiteren geschlechtsspezifischen Zuschreibungen geführt. Ein Beispiel dafür sind die Hormone. Im 19. Jahrhundert hat man eine erste Idee davon bekommen, dass es so etwas wie Hormone gibt. Die ärztliche Vorstellung davon war, dass die Drüsen bestimmte Säfte produzieren, deren Essenz dafür verantwortlich ist, was uns menschlich macht, unsere Sexualität bestimmt, geistigen Scharfsinn oder Stärke auslöst oder auch mütterlichen Instinkt hervorruft. Bevor Östrogen überhaupt einen Namen hatte, war es schon mit weiblichen Zuschreibungen verbunden. Man hat darüber diskutiert, dass Männer und Frauen unterschiedliche Säfte produzieren und diese die speziellen männlichen und weiblichen Qualitäten bedingen. Die Säfte der Frau, sagte man, machen sie gefügig, gelassen, feminin. Die tief verankerten sozialen Vorstellungen haben also auch die Wissenschaft geprägt.

Und ich denke, einige der führenden Stimmen in diesem medizinischen Diskurs hatten auch die gezielte Absicht, Frauen als häuslich und mütterlich zu klassifizieren und so ihre Emanzipation zu unterbinden. Und da Mythen ein sehr langes Leben haben, prägen sie zum Teil bis heute Überzeugungen, Annahmen und auch Vorurteile, wie die Frau ist.

"Die kranke Frau" heißt das Buch von Elinor Cleghorn. Es ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.

STANDARD: Aber diese Vorstellung der schwachen, sanften, mütterlichen Frau hat ja in erster Linie für die Frauen der bürgerlichen Schichten gegolten. Auf arme Frauen traf diese Kategorisierung nicht zu. Wie konnte man diesen Widerspruch aufrechterhalten?

Cleghorn: Die medizinischen Vorstellungen von Frauen waren tatsächlich sehr stark an die Klasse gebunden, der sie angehörten. In der medizinischen Literatur, die Frauen und ihre Krankheiten beschreibt, wird hauptsächlich über jene der oberen Mittelschicht geschrieben. Diese galten als besonders anfällig für gynäkologische Krankheiten. Bei Arbeiterfrauen ging man davon aus, dass sie robuster waren und deshalb weniger anfällig für Krankheiten.

Man muss dabei aber bedenken, dass sich nur die Mittel- und Oberschicht überhaupt das Honorar für einen privaten Arzt leisten konnten. In der Lage zu sein, eine Krankheit diagnostizieren und behandeln zu lassen, war echter Luxus. Viele der medizinischen Theorien haben sich in diesem Gesellschaftssegment entwickelt, dann wurden extreme Fälle verwendet und auf alle Frauen extrapoliert. Es ging da in erster Linie wohl auch darum, sich ärztliches Ansehen zu verschaffen. Man muss sich sehr genau anschauen, wer diese Männer waren, welche Politiker das aufgegriffen haben, was ihre Agenda war und mit wem sie zusammengearbeitet haben. Ich denke, jene Ärzte, die in öffentlichen Krankenhäusern arbeiteten oder in Geburtshäusern, hatten eine sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Frauenkrankheiten. Aber es ist halt weniger aufregend, über die Realität zu schreiben.

STANDARD: Ich habe den Eindruck, dass es diese unterschiedliche Beurteilung von Frauen und ihren medizinischen Problemen immer noch gibt. Nur betrifft das heute nicht mehr arme und wohlhabende Frauen, sondern weiße und schwarze oder jene mit anderer ethnischer Herkunft.

Cleghorn: Tatsächlich gibt es rassistische anthropologische Überzeugungen, die sich bis heute in der Medizin auswirken. Es gibt zum Beispiel den Ansatz, dass schwarze Frauen eine dickere Haut hätten und deshalb generell weniger schmerzempfindlich seien. Das zeigt sich auch in der Vorstellung, dass schwarze Frauen viel leichter gebären als weiße. Das wirkt sich bis heute aus, die Müttersterblichkeit schwarzer Frauen ist in Großbritannien und den USA eine der höchsten in der entwickelten Welt.

STANDARD: Kommen wir noch einmal auf die Hormone zurück. Dieses Thema taucht ja in der aktuellen Transgender-Debatte wieder auf, wenn man über das biologische und das soziale Geschlecht diskutiert. Ich habe den Eindruck, da liegen dem Diskurs vielfach Ideen zugrunde, die, wie Sie ausgeführt haben, im 19. Jahrhundert entstanden sind. Aber wie wirkt sich das heute aus?

Cleghorn: Das stimmt. Es kursieren sehr viele Mythen darüber, wer sich Frau nennen darf, was eine Frau ausmacht und sie als weiblich qualifiziert. Da hallen diese historischen Konnotationen ganz stark nach. Es ist aber Ziel des feministischen Denkens, uns von diesen essenziellen biologischen Vorstellungen zu lösen, dass wir uns ausschließlich über unseren Körper als Frau definieren. Frauen wollen als Menschen gesehen werden, nicht als Gebärgefäße oder Fortpflanzungsmaschinen. Ich denke, in ihren politischen Ambitionen sind sich Frauen und Transpersonen da sehr ähnlich – beide streben danach, über ihre Menschlichkeit definiert zu werden, nicht durch das biologische Geschlecht. Leider wird im Diskurs aber immer noch sehr oft das biologische Geschlecht genutzt, um zu definieren, was Menschen tun können – oder um sie in ihrem Leben einzuschränken, ihnen ihre Wahlmöglichkeiten zu nehmen.

STANDARD: In den vergangenen drei, vier Jahrzehnten hat sich in der Medizin viel getan. Die Gendermedizin hat sich etabliert, Frauen werden in medizinische Studien mit einbezogen und vieles mehr. Aber da ist noch ein weiter Weg zu gehen. Was ist nötig, um das medizinische System nachhaltig zu verändern?

Cleghorn: Ich denke, im Moment sind wir damit beschäftigt, viele historische Fehler zu korrigieren und alte Mythen und Überzeugungen loszuwerden. Und da sind noch viele strukturelle und systemische Veränderungen nötig. Aber um in Zukunft wirklich eine Veränderung zu schaffen, müssen wir die Prioritäten verschieben, denke ich. Man muss sich mehr auf jene Menschen konzentrieren, die wirklich bedürftig sind und die im Gesundheitswesen derzeit an den Rand gedrängt werden. Denn wenn wir diese Menschen priorisieren, dann geht es auch allen anderen besser. Das bedeutet, wir brauchen mehr menschliche Ansätze, es geht um mehr Gespräch und mehr Zuwendung.

Das passiert auch schon. Vor allem bei der jüngeren Generation von Ärztinnen und Ärzten merke ich, dass sie anders mit ihren Patientinnen und Patienten sprechen, sie haben ein großes Bewusstsein für diese Probleme. Sie stellen Fragen, hören aktiv zu, es gibt mehr Offenheit, weniger Abwehr. Sie wollen eine Versorgung anbieten, die wirklich frei von Vorurteilen und antiquierten Ideen ist, die am Ende nicht nur den Patientinnen und Patienten schaden. Diese antiquierten Ideen hindern ja auch medizinische Fachkräfte daran, ihre Arbeit gut zu machen. Dieser Zugang ist schon einmal ein guter Anfang. Und sie benötigen natürlich ausreichend Ressourcen, um ihre Arbeit gut zu machen. (Pia Kruckenhauser, 29.10.2022)