Der aktuelle Weltmeister unter allen poetischen Schlaf- und Gestaltwandlern: der rumänische Erzähler Mircea Cărtărescu.

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Leichter noch als das Gewand der Zivilisation streift man die eigene Haut ab. Sie hängt dann, sorgfältig auf einen Drahtbügel gespannt, im Kasten ihres Besitzers. Ivan hat sich noch nicht oft gehäutet, er ist Gymnasiast. Auf den Sohlen der Poesie irrt er durch ein ominöses Traum-Bukarest. Das Vorhandensein der Eltern bleibt fragmentarisch: flüchtig wahrgenommen aus Anlass liebloser Umarmungen, denen der Bub, vollends verwirrt, durch die Zimmerwand lauscht.

Einen weiteren, nicht weniger wichtigen Hautsack, den der eigenen fötalen Entwicklungsstufe, findet Ivan zusammengepresst wieder, aufbewahrt im Poesiealbum der Mutter. Der Held der Erzählung Die Häute führt eine Doppelexistenz – indem er entscheiden muss, "auf welcher Seite seiner Lider" er jeweils lebt und atmet.

Durch die Lungen pumpt dieses Alter Ego des rumänischen Weltliteraten Mircea Cărtărescu (66) keine gewöhnliche Luft. Eher schon handelt es sich um ein Leuchtgas, ein sanft euphorisierendes Gemisch, das den Atmenden mit der Fähigkeit zur Klarsicht beschenkt. Sich selbst hält dieser erstaunliche Held ohnehin für gefangen, festgesetzt in einem "unendlichen Bernsteinkorn". In diesem sitzt die ganze Welt, wie das berühmte Schiff in der Flasche.

Mit der Pinzette

Man fragt sich fassungslos, mit welcher Pinzette der Erzähler die vielen mikroskopischen Details in sein Buch hineingesetzt hat: die in Schokolade gegossenen Insekten in Stanniol; die Statuen toter Dichter, die ein Fußbreit über den Sockeln zu schweben scheinen. Melancolia, Cărtărescus neues, ingeniöses Werk, wird vom Verlag fälschlich als Erzählband ausgegeben.

Tatsächlich handelt es sich um einen verwegenen Kindheitsroman: aufgeteilt in fünf Kapitel, deren jedes für sich bestehen kann. Es geht in ihnen – gerne auch gleichnishaft – um die schrittweise Freisetzung kindlicher Fantasie. Um die Entpuppung des Selbst, vorangetrieben als Traumimagination, die vom Larven- bis zum Adultstadium reicht.

In der Tat waren es die Bürgerinnen der vormaligen Warschauer-Pakt-Staaten, die sich nach 1989 wiederholt häuten mussten. Die die eigene Identität verleugneten, ihre Herkunft als sozialistische Bruderlandbewohner. Im Erzählkosmos von Mircea Cărtărescu sind es ausgerechnet die Kinder, die die Last der jüngsten Überlieferung tragen. Letztere kehrt chiffriert wieder, übersetzt in ein Naturgeschehen, einen Metabolismus von feinsten Nuancen. So werden aus verwaisten Geschöpfen irgendwann herrliche Schmetterlinge. Doch bis es so weit ist, durchlaufen die Kleinen ein Martyrium: Die Einsamkeit, der sie preisgegeben sind, ist abgrundtief.

Ein Fünfjähriger wartet jahrelang (!) auf die Rückkehr seiner beim Einkaufen verschwundenen Mutter. Der Leere seiner Kindheitswelt entflieht er über Stege, die sich firmamentweit über den Erdboden spannen. Ein Achtjähriger meint, er und seine Schwester würden von blutrünstigen Füchsen heimgesucht. Seine nächtliche Reise zum "Fuchsbau" bildet den Kern eines herzzerreißenden Wintermärchens: mit tief lotenden Blicken durch die Eisdecke eines zugefrorenen Sees.

Cărtărescu vermag märchenhaft wie Hans Christian Andersen zu schreiben. Zu anderer Gelegenheit entwirft er Planskizzen nach dem Vorbild von Jorge Luis Borges, verrätselte Reiseliteratur aus vordem so noch nicht betretenen Gegenden menschlicher Einbildungskraft. Oder eben aus verwaisten Ruinenlandschaften: Riesige Kautschukfabriken stehen in ihnen, nächtlich verklumpt, doch in aller Klarheit, neben enormen Kaufhäusern. Zerborstene Kleiderpuppen erinnern an Insekten. Die abgängige Mama aber liegt, in Schokolade gegossen, als Popanz ihrer selbst in Stanniol gewickelt da.

Insektenvermehung

In seinem vorherigen Roman Solenoid waren es rätselhafte Zylinderspulen, unter deren Einfluss die Träumenden der Nacht sich in die Lüfte erhoben. Hier, in Melancolia, erfindet das in die Freiheit entlassene Menschenkind seine eigene Überlieferung. An die Stelle von Marxismus und Materialismus ist die Geschichte der wunderbaren Insektenvermehrung getreten. Einzig Poesie verhilft zum Wimmelbild. Das Chaos ist noch nicht aufgebraucht. Mit einem Wort: Mircea Cărtărescu verfasst – wie stets federnd und wunderbar ausgehört übersetzt von Ernest Wichner – die große, maßgebliche Literatur unserer Tage. (Ronald Pohl, 29.10.2022)