Bernhard Günther, immer auf der Suche nach neuen Hörräumen.

Nafez Rerhuf

Am Samstag startet das Festival Wien modern im Konzerthaus. Damit beginnt eine Reihe, die sich – über diverse Locations der Stadt verteilt – mit dem zeitgenössischen Schaffen befasst. Festivalleiter Bernhard Günther hat unter dem Titel und "Wenn alles so einfach wäre – 100 Versuche über den guten Umgang mit Komplexität" bis Ende November ganze 59 Ur- und 19 Erstaufführungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken konzipiert. Im Gespräch erklärt er das Konzept des Festivals und mahnt, die Politik müsse sich mehr um den Bereich Musik kümmern.

Standard: Endlich hoffte man, dass Corona abklingt und zu keinen Verwerfungen mehr führt, schon kamen neue Probleme. Krieg, Inflation, Energiekosten, das Publikum kommt nicht so zurück wie erwartet. Wie belastet ist das Festival durch diese Aspekte?

Günther: Wir nehmen es mit Humor und Gelassenheit. Die Unberechenbarkeit im Kulturbereich ist sprunghaft gestiegen, es braucht viel Geduld, die knappen Reserven für Kostensteigerungen oder Einnahmenausfälle sind überall im Stresstest, und die Kulturbudgets werden nächstes Jahr komplett neu gerechnet werden müssen. Aber der Kartenverkauf läuft bislang gut bei uns. Und was ich wirklich cool finde: In der neuen Musik ist die Komplexität ja vor 120 Jahren mit der Wiener Schule angekommen. Auf der Bühne, hinter den Kulissen und im Publikum haben viele Menschen in unserem Bereich langsam gelernt, das Komplexe nicht zu fürchten, sondern zu genießen. Das läuft 2022 quasi unter Schlüsselqualifikation.

Standard: Das Motto Komplexität passt eigentlich zu der Weltlange, bietet man beim Festival Antworten, Orientierung?

Günther: In aller Bescheidenheit versuchen wir das zumindest. Die Musik bei Wien Modern wird von heute lebenden Künstlerinnen und Künstlern geschrieben, immer öfter auch aus Unbehagen mit den Problemen der Gegenwart. Was dabei herauskommt, ist oft inspirierend und bringt auf neue Gedanken. Wenn Olga Neuwirth im Lockdown in ihrer Werkreihe coronAtion Musik für Streaming-Konzerte in Paris, Köln, Wien und Berlin komponiert, wird das zum Nachdenken über Vereinsamung, Anstrengung, Ratlosigkeit, Trotz und Hoffnung – und entwickelt dann einen hypnotischen, fast zehn Stunden langen Groove, der seine eigene Komfortzone behauptet. Daraus entwickeln wir gemeinsam mit Olga Neuwirth ungewöhnliche Hörräume im MAK und dem AIL in der Otto-Wagner-Postsparkasse, die neue Formen der Berührung mit live gespielter Musik ermöglichen.

Standard: Was kann die Musik in Zeiten wie diesen, die Leute lechzen angeblich nach Ablenkung und Unterhaltung. Nur keine schweren Themen?

Günther: Den Bedarf nach Ablenkung und Unterhaltung kann ich voll verstehen, aber dabei so zu tun, als wäre alles ganz einfach, klappt ja heutzutage nicht einmal mehr im Pop und in der Operette. Schwere Themen oder komplexe Kunstwerke auf die Bühne zu bringen kann in der neuen Musik viel schöner und viel mitreißender sein als irgendeine Idylle von früher. Heiner Goebbels greift für "A House of Call" tief in sein "imaginäres Notizbuch" voller knacksender Sprach- und Gesangsaufnahmen seit 1906 und schafft es, dass ein kritischer Blick auf die ungerechte und koloniale Geschichte der Welt im Volkstheater zu einem unglaublich atmosphärischen und packenden Orchestertheaterstück wird. Angélica Castelló legt in Red Rooms Rotkäppchen und den Wolf im Schauspielhaus auf die psychoanalytische Couch und untersucht Gewalt und Missbrauch in Familien in einer wilden Musiktheateruraufführung. Stefano Gervasoni und der Filmemacher Paolo Pachini erinnern in einem populistischen Rechtsruck ihres Landes an die visionäre, anarchische Kreativität von Pier Paolo Pasolini. Da stecken für mich viel mehr Gründe drin, um heute aus dem Haus zu gehen, als in der Versprechung eines Paradieses, das es nicht mehr gibt.

Standard: 59 Ur- und 19 Erstaufführungen an 27 Spielstätten in 10 Wiener Gemeindebezirken: Wird sich das umfangmäßig halten lassen in Zukunft?

Günther: Die Kristallkugel lasse ich schön in der Schublade. Jetzt bringen wir erst einmal das nächste Festival über die Bühne, das ist sportlich genug. Und dann sehen wir in aller Ruhe weiter.

Standard: Gemeine Frage: Persönliche Highlight des Festivals?

Günther: Ich freue mich auf visionäre Orchestermusik wie Stele von György Kurtág oder Der Zorn Gottes von Sofia Gubaidulina im Eröffnungskonzert, auf Helmut Lachenmanns Präzisionspoetik bei Allegro sostenuto mit dem unglaublichen Trio Pierre-Laurent Aimard, Jean-Guihen Queyras und Mark Simpson, auf George Crumbs Makrokosmos mit dem sirene Operntheater, auf die immer unvorhersehbaren Gespräche mit Georg Baselitz, auf die begehbare ceremony II von Georg Friedrich Haas im Kunsthistorischen Museum – und ganz besonders auf zwei Verbindungen, die wir zwischen den Experimentalwerkstätten der freien Szene und den großen Kulturorten im Herzen der Stadt legen: Fraufeld im Mozart-Saal und den radikalen Minimalismus von The International Nothing zum Festivalabschluss im Gartenbau-Kino.

Standard: Das Verhältnis des Festivals zu Konzerthaus und Musikverein, dadurch, dass die Lage für die Häuser eher schwerer wurde?

Günther: Die Konzerthäuser arbeiten in Wien mit um die 90 Prozent Eigendeckungsgrad und rund 10% öffentlicher Kulturförderung. Bei den Bundestheatern beispielsweise ist es mit zuletzt 5 bis 13 Prozent Eigendeckung genau umgekehrt. Gemessen daran ist das Engagement des Wiener Konzerthauses für Wien Modern immer noch eine große Leistung, und der Musikverein traut sich heuer erfreulicherweise sogar mehr zeitgenössische Koproduktionen als je zuvor. Aber es muss sich politisch etwas zugunsten der Musik als Ganzes bewegen, sonst entwickelt sich Österreich in Sachen Innovation vom Musikland zum Zwergstaat. Wien Modern hat seit 1988 nur funktioniert, weil die großen Spielstätten genügend Bewegungsfreiheit hatten, um neue Musik tatkräftig mit zu ermöglichen. Wenn bei den großen Festivalpartnern vom Konzerthaus über die Orchester und Universitäten bis zum ORF irgendwann nichts mehr geht als risikoarme Musik mit maximalen Einnahmen, wäre Wien Modern kaum denkbar.

Standard: Wie kann man sich das Leben des Festivalmachers während des Festivals vorstellen? Stress ohne Ende?

Günther: Ich habe als kleiner Junge in der Schweiz bei langen Bergtouren gelernt: stetige kleine Schritte machen, Kräfte einteilen, ab und zu eine Pause einlegen und vor allem den Spaß an der Sache im Auge behalten. Das kann ich bei der Arbeit im Kulturbereich wärmstens empfehlen.

Standard: Was sind die Herausforderungen heuer?

Günther: Wenn wir es mit den bescheidenen Mitteln der Musik schaffen, in der aktuellen Grundstimmung wieder ein klein wenig den Zauber des Unbekannten und die Schönheit des Komplexen heraufzubeschwören, dann lohnt sich die ganze Mühe. (Ljubisa Tosic,28.10.2022)