Cormac McCarthy (89) veröffentlicht mit "Der Passagier" den ersten Teil seines literarischen Abschieds. "Stella Maris", der zweite Teil, soll Ende November folgen.

Beowulf Sheenan

Mit Die Abendröte im Westen, Kein Land für alte Männer oder zuletzt mit Die Straße legte Cormac McCarthy harte, wuchtige, grausame und meist auch sehr karge Romane vor. Dank dieser gern auch verfilmten Klassiker zählt er heute zu den wichtigsten US-Autoren und -Autorinnen der Gegenwart. Nach der postapokalyptischen Vater-Sohn-Studie Die Straße, für die er 2007 den Pulitzerpreis erhielt, schien es, als hätte der damals 74-jährige Autor zum Thema Ende der Zeiten und Weltuntergang eigentlich alles gesagt.

Sechzehn Jahre später veröffentlicht McCarthy mit mittlerweile 89 Jahren nun allerdings mit Der Passagier einen weiteren Roman, der, als Opus magnum angelegt, die dunklen und düsteren Seiten der menschlichen Existenz wahrscheinlich nun doch ein letztes Mal zum Thema macht. Bevor Ende November auch noch ein zweiter Teil dieser Reise in den Untergang namens Stella Maris erscheinen wird, arbeitet Cormac McCarthy im Vergleich zu früheren Werken stilistisch statt mit Skalpiermesser und Schlachtschussapparat dieses Mal mit feinem Besteck.

Im Dunkeln lauert die Angst

Statt mit Cowboys und Killern taucht McCarthy, bewaffnet mit neueren Erkenntnissen und Theorien der Naturwissenschaften und modernem technischem Rüstzeug, tief hinunter in Abgründe, die er an seinem Protagonisten Bobby Western festmacht. Achtung, Nachname: Der ist so etwas wie ein gescheiterter All-American Hero. Bobby Western durchquert zwar anstatt zu Pferd oder in einem Pick-up-Truck mit einem Maserati die Einöden des Westens und Sümpfe des Südens auf der vergeblichen Suche nach etwas, das die Menschen früher als so etwas Ähnliches wie "Sinn" bezeichneten. Allerdings wird jetzt der nachtschwarze Meeresgrund als zusätzlicher Schauplatz zu McCarthys üblichen Settings in menschenleeren Badlands hinzugefügt. Bobby Western arbeitet als Bergungstaucher im Meer und in Flüssen. Western überkommt angesichts der dort unten lauernden Schwärze die nackte Angst.

Ein Taucheinsatz führt Bobby Western also hinunter zu einem nicht registrierten und von innen verschlossenen Flugzeugwrack mit neun Leichen. In dem fehlen nach seiner Öffnung mittels Schweißbrenner nicht nur die Blackbox und ein geheimnisvoller Koffer, sondern auch ein zehnter namenloser Passagier. Bald tauchen bei Western, der als Physiker mit dunkler Vergangenheit obendrein privat untergetaucht in einem Scherbenviertel von New Orleans haust, die berühmten anonymen Herren in schwarzen Anzügen auf. Die wollen Genaueres bezüglich seines Unterwassereinsatzes erfahren.

Sein Arbeitskollege kommt kurz darauf unter mysteriösen Umständen ums Leben. Bobby Western ist auf der Flucht. Sie führt ihn in heruntergewirtschaftete Motels und Bars. In denen trifft Western auf sich nur mühsam erschließende Gesprächspartner. In nicht gekennzeichneten, manchmal banalen, manchmal komplizierte wissenschaftliche Themen behandelnden schnoddrigen Dialogen geht es schlichtweg um alles und das Nichts.

Die "Handlung" von Der Passagier ist 1980 in der Zeit des Kalten Kriegs angesiedelt. Neben Unterwasserschweißtechniken, dem Vietnamkrieg, der Frage nach Geschlechtsidentität und den großen amerikanischen Traumata wie der Ermordung von John F. Kennedy und der Atombombe stößt man bei der Lektüre spätestens bei der Halbzeit dieses für McCarthys Verhältnisse mit mehr als 500 Seiten mehr als üppig angelegten Romans bald auch auf einen 18-seitigen Block zum Thema Quantenmechanik, S-Matrix-, Kaluza-Klein- und Stringtheorie: "Die Schwierigkeit mit der Quantenmechanik muss zum Teil in dem Problem liegen, mit der schlichten Tatsache klarzukommen, dass es so etwas wie Information an und für sich, unabhängig von dem für ihre Wahrnehmung erforderlichen Apparat, nicht gibt." Der Rest ist Metaphysik, in einer Welt ohne "Gott". Bobby Westerns Vater übrigens arbeitete einst gemeinsam mit Robert Oppenheimer an der Entwicklung der Atombombe. Auch seine Unterlagen sind spurlos verschwunden.

Paranoia macht sich breit

Paranoia macht sich breit. Als parallelen Handlungsstrang, der im erwähnten zweiten Teil Stella Maris wohl bis zur bitteren Neige ausgerollt werden wird, schaltet McCarthy immer wieder Halluzinationen von Bobbys Schwester Alicia dazwischen. Mit der hochbegabten Mathematikerin verband ihn bis zu ihrem Selbstmord in einer psychiatrischen Klinik ein inzestuöses Verhältnis. Tot oder nicht, Alicia hat Albträume und Halluzinationen. In Kursivschrift gesetzt, taucht da immer wieder ein "Contergan-Zwerg" mit flossenartigen Händen auf. Er sorgt gemeinsam mit einem im Hintergrund lauernden Freakshow-Personal zusätzlich für beklemmende Szenen jenseits jeglicher Vernunft. Alles geht den Bach runter. Der Roman und das Erzählen brechen in sich zusammen. Cormac McCarthy holt in Der Passagier noch einmal zu einem letzten großen Wurf aus. Ob er damit ins Schwarze trifft, sei dahingestellt. (Christian Schachinger, 29.10.2022)