Küstenvögel spielen nicht nur im Film, sondern auch bei skurrilen Begebenheiten im echten Leben eine Hauptrolle.
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Wenn die Tage kürzer werden und sich nach der Zeitumstellung der Himmel früher verdunkelt, verbringen viele Menschen ihre freien Stunden vermehrt unter gemütlichen Wolldecken, am besten auch mit unterhaltsamen Kulturprodukten. Einige davon zieht es zu schaurigen Filmen – und wer moderne Horrorfilme mit plötzlichen "Jumpscares" meidet, greift gern zu älteren Klassikern.

Ganz vorne stehen für den einen oder anderen Vintage-Cineasten Alfred Hitchcock und sein Kultfilm "Die Vögel". Nicht nur bei diesem Werk lehnte sich der berühmte Filmemacher an die Literatur der Britin Daphne du Maurier an: Schon zuvor hatte er ihren wohl berühmtesten Gothic-Roman "Rebecca" (1938) in einen Psychothriller auf Zelluloid transformiert, der 1940 in die Kinos kam. Als zwölf Jahre später die Kurzgeschichte "The Birds" erschien, sicherte sich Hitchcock sofort wieder die Filmrechte am Stoff.

Inhaltlich ähneln sich die beiden Endprodukte allerdings relativ wenig – bis auf die essenzielle Tatsache, dass es in beiden Geschichten um eine mysteriöse Bedrohung durch tötungsfreudige Vögel geht. Ansonsten wurden Handlung und Handelnde großzügig ausgetauscht, genauso wie der Ort der Geschehnisse, der vom südenglischen Cornwall nach Kalifornien verlegt wurde.

"Seevogel-Invasion"

Während sowohl du Mauriers als auch Hitchcocks Werk fantastische Horrorerzählungen sind, steckt darin doch ein Funken Wahrheit. Die britische Autorin hatte ihre Eingebung, als sie sah, wie ein Landwirt bei Feldarbeiten von mehreren Möwen attackiert wurde. Derartiges Verhalten ist ungewöhnlich, doch können sich Vögel tatsächlich von Menschen bedroht fühlen und in Ausnahmesituationen auf sie losgehen – etwa wenn Personen ihren Nestern zu nahe kommen.

Regisseur Alfred Hitchcock und Schauspielerin Tippi Hedren, die im legendären Film "Die Vögel" die Hauptrolle der Melanie Daniels spielte.
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Bis Hitchcock die Novelle in seinem 1963 veröffentlichten Film verarbeitete, vergingen etwa zehn Jahre. In diese Zeit fiel auch eine Beobachtung von Spatzen, die über den Kamin in einem Wohnhaus landeten. Von wesentlich größerer Relevanz war hingegen eine zweite ungewöhnliche Begebenheit, die es in die Medien schaffte: Die Lokalzeitung "Santa Cruz Sentinel" schrieb am 18. August 1961 von einer "Seevogel-Invasion". Tausende Vögel waren augenscheinlich vom Himmel gefallen und belagerten in halbtotem Zustand Straßen und Vorgärten. Beunruhigte Menschen, die sich den verwirrten Tieren näherten, wurden mitunter verletzt, dem Bericht zufolge wurden acht Personen "gebissen" und erhielten sicherheitshalber eine Tetanusspritze.

Unangenehme Überraschung

Hitchcock interessierte sich sogleich für das Geschehnis und forderte ein Exemplar der Zeitung an – immerhin war er gerade dabei, seine von du Maurier inspirierte Geschichte für die Leinwand zu entwickeln. Nachts trug es sich zu, in der Küstenstadt Capitola: Unzählige Vögel knallten in ungebremstem Flug gegen Häuser und Autos, etliche Menschen wurden vom "Vogelregen" auf die Dächer geweckt. Es handelte sich vor allem um Dunkle Sturmtaucher, eine Spezies, die vor allem auf der Südhalbkugel vorkommt, aber als Zugvogel auch andere Regionen besucht und mitunter an der Nordsee gesichtet wird.

Dunkle Sturmtaucher (Puffinus griseus) waren es, die zwei Jahre vor Erscheinen des Films "Die Vögel" in Kalifornien für Unruhe sorgten – und zu Hunderten kläglich starben.
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Offensichtlich waren die Dunklen Sturmtaucher völlig desorientiert, schrien der Bevölkerung von Capitola zufolge "wie Babys" und zeigten sogar Anzeichen einer Vergiftung: Viele der Vögel erbrachen sich und würgten mehr oder minder verdaute Fischkadaver herauf. "Der Geruch war fürchterlich", wird eine Anrainerin zitiert, die morgens ihre Haustür öffnete und von Vögeln überrascht wurde, die in ihr Heim eindringen wollten. Katzen hingegen wurden vom fischigen Odeur angezogen.

Weshalb es zu einer solchen "Invasion" kam, konnte damals nicht eindeutig geklärt werden. Manche vermuteten, dass der Nebel in der Bucht zur Desorientierung der Vögel geführt hatte. Einige Individuen wurden auf Viren getestet, die damaligen Befunde waren aber unauffällig.

Ungesunde Nahrung

Ziemlich genau 50 Jahre später jedoch gelang es einem Forschungsteam, das Rätsel zu lösen. Ein weiteres kalifornisches Vogelsterben 1991 – diesmal waren es Braunpelikane in der Monterey Bay – erinnerte die Fachleute im Rückblick an die ungewöhnliche Begebenheit in Capitola. Allmählich fügten sich die Indizien zusammen: Die Pelikane hatten augenscheinlich giftigen Fisch zu sich genommen und an den gleichen Symptomen gelitten wie zuvor die Sturmtaucher – Desorientierung, Krämpfe und Hirnschäden, die in vielen Fällen zum Tod führten.

Die Nahrungskette der Vögel lässt sich zurückverfolgen über Sardellen, die sich wiederum von Plankton ernähren. Der Beginn der Probleme ließ sich in Kieselalgen der Gattung Pseudo-nitzschia verorten: Diese produzieren bei der Algenblüte Domoinsäure. Eine Verbindung, die chemisch dem Glutamat ähnelt, allerdings potenziell verheerende Folgen hat – jedenfalls für Menschen und Tiere, die Fische und Meeresfrüchte konsumieren, in denen sich das Algentoxin angereichert hat. Die entsprechende Erkrankung wird auf Englisch Amnesic shellfish poisoning, kurz ASP, genannt. Und sie betraf auch die Vögel, die 1961 für nächtlichen Schrecken sorgten, wie das Forschungsteam von der University of California in Santa Cruz einst im Fachmagazin "Nature Geoscience" bewies.

Krieg und Geld

Hitchcock, der Herr des Subtilen, bleibt dem Publikum eine Erklärung für die fiktiven Vogelattacken in seinem Film schuldig. Auch in der literarischen Inspiration von du Maurier wird es nicht ganz klar, weshalb Vögel plötzlich Menschen angreifen. Manche sehen darin eine Metapher für den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende beim Erscheinen der Kurzgeschichte noch keine zehn Jahre vergangen war – oder für den Kalten Krieg.

Movieclips

Um reale Vögel musste sich aber vorrangig die Filmcrew kümmern, immerhin zählten etliche trainierte Vögel zu den titelgebenden Hauptdarstellern. Neben lebendigen Raben, Möwen und Spatzen wurden allerdings auch mechanische Artgenossen hergestellt und eingesetzt – angeblich fraßen sie etwa 200.000 US-Dollar des Filmbudgets. (Julia Sica, 30.10.2022)