Waren in die türkisen Machenschaften verwickelt, haben sie aber politisch überlebt: Kanzler Karl Nehammer, Klubobmann August Wöginger (links) und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (rechts)

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Auf den ersten Blick scheint die ÖVP mit der Ära Sebastian Kurz nur noch wenig zu tun zu haben. Die engsten Verbündeten in der Regierung des früheren Kanzlers sind allesamt aus der Politik verabschiedet, aus seinem ersten, türkis-blauen Team ist lediglich die jetzige Verfassungsministerin Karoline Edtstadler übrig. Doch ein zweiter und dritter Blick offenbaren Kontinuitäten und werfen die Frage auf, ob die türkise Phase unter Sebastian Kurz und seinen Jüngern ein Intermezzo war oder ob sich die gemäß Parteiprogramm eigentlich christlich-soziale ÖVP, für die aber vor allem Machtgewinn und Machterhalt mit allen Mitteln zählte, auch ohne Kurz in eine populistische und mehr oder weniger ideologiebefreite Richtung entwickelt hätte.

Team Türkis ist weg

Im Herbst 2017 lag die Partei ihrem damals neuen Obmann jedenfalls zu Füßen: Der hatte für sie nach mehr als einem Jahrzehnt wieder die Kanzlerschaft zurückerobert. Bei den türkis-blauen Koalitionsverhandlungen scharte Kurz eine Handvoll enger Vertrauter um sich, die schon an seinem Plan zur Parteiübernahme ("Projekt Ballhausplatz") mitgearbeitet hatten. Sie alle sollten unter Türkis-Blau und auch danach die politischen Entwicklungen prägen: Gernot Blümel, Elisabeth Köstinger und Stefan Steiner etwa. Mittlerweile haben sie die Politik verlassen.

Was klar türkis gefärbtes Personal betrifft, ist das die Regel: Wer mit Sebastian Kurz aufstieg, ist mit ihm auch wieder aus der Politik ausgestiegen. Das gilt für die Ex-Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck ebenso wie für den langjährigen ÖVP-Generalsekretär Axel Melchior (der noch als Abgeordneter aktiv ist) oder die Kurz-Berater Bernhard Bonelli, Markus Gstöttner, Gerald Fleischmann und Johannes Frischmann, wobei die beiden Letztgenannten nun im ÖVP-Klub ein gutbezahltes Ausgedinge gefunden haben. Ausnahmen sind Susanne Raab, eine enge Verbündete von Kurz, die weiter als Familien- und Medienministerin tätig ist, und Alexander Schallenberg, Kurzzeitkanzler und Außenminister.

Margarete Schramböck (links) und Elisabeth Köstinger (rechts) haben die Politik wenige Monate nach Sebastian Kurz verlassen
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Schwarz-Türkis-Schwarz

Abseits dessen gibt es aber eine durchaus große Gruppe an ÖVP-Politikern, die zwar sehr gut mit Sebastian Kurz leben konnten, ihm aber weder ihre politische Karriere verdankt noch sich zu eng an ihn gebunden haben. Viele von ihnen stammen aus dem (niederösterreichischen) ÖAAB, dem Arbeitnehmerbund der ÖVP. Dazu zählt natürlich Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, der schon im Jahr 1996 Bürgermeister von Waidhofen an der Ybbs wurde – damals schloss Kurz gerade seine Volksschulausbildung ab. Sobotka, später Finanzlandesrat und dann Innenminister, verbündete sich ab 2017 zwar mit dem damaligen Hoffnungsträger der ÖVP. Als Nationalratspräsident war er ab Türkis-Blau aber weit genug von der Regierung entfernt, um nicht im türkisen Sog des Kurz-Rücktritts im Oktober 2021 mitgerissen zu werden. Ähnlich ist das bei August Wöginger, dem mächtigen Klubobmann der Volkspartei, der seit mehr als zwanzig Jahren im Nationalrat sitzt.

Der ÖAAB-Achse zuzurechnen ist jedenfalls auch Kanzler Karl Nehammer. Vom Generalsekretariat des Arbeitnehmerbundes wechselte er 2018 in ebenjenes der Bundespartei, bevor er unter Türkis-Grün 2020 Innenminister wurde. Seine Ehefrau Katharina Nehammer war einst enge Mitarbeiterin von Sobotka; mit den Familien der niederösterreichischen Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Verteidigungsministerin Klaudia Tanner fahren die Nehammers traditionellerweise auf Skiurlaub. Dass Tanner zudem die Schwägerin des ehemaligen Kurz-Beraters Stefan Steiner ist, zeigt vor allem, wie klein Österreich ist und wie winzig seine politische Landschaft.

Auch die oft als Nehammer-Alternative genannte Karoline Edtstadler kommt aus dem ÖAAB. Sie sammelte bereits Erfahrung als Kabinettsmitarbeiterin des einstigen Justizministers Wolfgang Brandstetter (von der ÖVP nominiert). Edtstadler hat daher ein dichteres Netzwerk als andere im Team Türkis, sie ist in der Justiz gut vernetzt und ebenso in den Ländern.

Schwierige Distanzierung

Von den aktuellen Skandalen erfasst wurde die Gruppe der vier mächtigen ÖAABler allerdings durchaus. Vor allem Wolfgang Sobotka sah sich in den vergangenen Monaten mit einer Vielzahl an Vorwürfen konfrontiert, das reichte von seiner Beziehung zum Glücksspielkonzern Novomatic bis zum Verdacht auf Postenkorruption und Interventionen in Steuerverfahren. Gegen ihn laufen Ermittlungen, er weist alle Vorwürfe zurück. Auch gegen Wöginger ermittelt die WKStA, wie Sobotka wurde er vom potenziellen Kronzeugen Thomas Schmid schwer belastet. Wöginger soll einst bei Schmid, damals Generalsekretär im Finanzministerium, aus klar parteipolitischen Motiven rund um eine Postenbesetzung in einem Finanzamt interveniert haben.

Alte Seilschaften haben die türkise Phase der ÖVP überlebt – etwa rund um Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka
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In der Zeit, in der viele türkise Affären spielen, war Nehammer Generalsekretär der Bundespartei (2018 bis 2020). Er war auch für jenen Rechenschaftsbericht zum finanziellen Gebaren der Volkspartei verantwortlich, den der Rechnungshof spektakulär zerpflücken sollte. Edtstadler wiederum wird von der Opposition verdächtigt, Steuergelder für ihren EU-Wahlkampf im Jahr 2019 eingesetzt zu haben, was sie bestreitet.

All das bindet die amtierenden ÖVP-Spitzenpolitiker in einer Art Lähmung zusammen: Keiner und keine von ihnen ist unbelastet genug, um den anderen zum Rücktritt zu bewegen oder gar aufzufordern. Tut er es, läuft er Gefahr, selbst zu stürzen. August Wöginger kann Sobotka wohl schlecht mit Blick auf die Schmid-Aussagen raten, die Politik zu verlassen. Dasselbe gilt in die Gegenrichtung. Und wer von ÖVP-Obmann Nehammer erwartet, die Partei mit klaren Worten von Kurz und seiner Politik abzugrenzen und sich für strenge Antikorruptionsmaßnahmen einzusetzen, überschätzt die Möglichkeiten des Kanzlers.

Viel Kontinuität hinter den Kulissen

Zu all dem kommt noch, dass abseits des Scheinwerferlichts, in den nicht so hell ausgeleuchteten Ecken der politischen Bühne, noch viel Personal aus der Ära Kurz tätig ist. Man nehme beispielsweise das Finanzministerium: Dort steht mit Magnus Brunner zwar ein von den Skandalen unberührter Minister an der Spitze, unter ihm – in der sogenannten "Linie" – sind jedoch nach wie vor einst enge Vertraute von Thomas Schmid aktiv, die dessen skrupellose Unterstützung für Kurz mitgetragen haben. Bis zum Sommer 2022 war beispielsweise Dietmar "Didi" Schuster Generalsekretär. Der Posten wurde mittlerweile abgeschafft – zu schlecht war dessen Image geworden. Als Schmid noch Generalsekretär war, war Schuster als sein Stellvertreter stets zur Stelle, wenn Schmid etwas brauchte. Das lässt sich aus vielen Chats ablesen. Nur einmal hat sich Schmid über Schuster beschwert: Als das Kabinett bei einem Treffen in einer Bar am Wiener Donaukanal über die Stränge geschlagen hatte und der Lokalinhaber – der wiederum mit Schmid gut war – monierte, dass Passanten mit Gläsern beworfen worden seien. Schuster ist heute Chef der Budgetsektion im Finanzressort.

Für Steuerpolitik ist dort der Ex-Kabinettsmitarbeiter zuständig, den Thomas Schmid einst an seine Rolle im Ministerium erinnert hat: Der sei "eine Hure für die Reichen", weil er "in einem ÖVP-Kabinett" tätig sei. Anlass dieser Zuschreibung war die erneute Bitte von Finanzminister Hans Jörg Schelling, sich mit den Wünschen von Unternehmer Siegfried Wolf in Bezug auf dessen Steuerverfahren zu beschäftigen. Im Rahmen seiner Aussage vor der WKStA erklärte Schmid seinen Ausspruch so: "Diese Aufforderung war von mir ironisch gemeint. Wir haben uns gegenseitig ein wenig verarscht."

Ebenfalls in der nicht so erhellten zweiten Reihe steht seit langem Clemens-Wolfgang Niedrist: Er wirkte bereits im Kabinett von Justizminister Brandstetter, wechselte dann zu Josef Moser (ÖVP), wurde Kabinettschef von dessen Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) und blieb das auch unter Magnus Brunner. Ins Schlaglicht der Öffentlichkeit geriet er zweimal rund um die Hausdurchsuchung bei Blümel. Niedrist war es, der den berüchtigten Laptop aus der Wickeltasche (notabene: nicht aus dem Kinderwagen) von Blümels Lebensgefährtin abholte und zu den Ermittlern brachte. Zudem war er der Adressat von Christian Pilnaceks berühmter Frage: "Wer vorbereitet Gernot?" Der mittlerweile suspendierte Sektionschef aus dem Justizministerium ortete rund um die Ermittlungen ja einen "Putsch" und beriet Niedrist zur Frage, welche Unterlagen das Finanzministerium der WKStA übergeben müsse.

Frage der Loyalität

Den Wechsel von Mitarbeitern aus den politischen Kabinetten in die Verwaltung gab es zwar immer wieder, die Türkisen haben das allerdings auf die Spitze getrieben. So kam es, dass neben altgedienten Beamten plötzlich eine Vielzahl der türkisen Sache verbundenen Mitarbeiter saß, die ihren Job vor allem dem Team Kurz zu verdanken hatten. Auch das macht es in vielen Ministerien schwer, die jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten. Angeblich trifft das auch aufs Finanzministerium zu: Dort macht das Gerücht die Runde, dass als Reaktion auf Thomas Schmids Geständnis eine Art Taskforce eingerichtet worden sei. Deren Aufgabe? Dokumente zu finden, die vor allem Schmids Aussagen zu ÖVP, Sobotka und Wöginger widerlegen. Das wird dementiert: Man stelle lediglich Unterlagen zusammen, die U-Ausschuss und WKStA angefordert haben. (Renate Graber, Fabian Schmid, 28.10.2022)