Kenneth Rogoff: "Aktuell haben Kräfte die Oberhand gewonnen, die einen globalen Investitionsschub auslösen werden."
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Nach der Fed in den USA verschärft auch die Europäische Zentralbank in Frankfurt den Kampf gegen die Inflation. Diese Woche hob sie die Leitzinsen neuerlich stark an, auf inzwischen zwei Prozent. Die Weltwirtschaft tritt damit in eine turbulente Phase ein. Grund genug, mit dem Ökonomen Kenneth Rogoff über die aktuelle Krise zu sprechen.

STANDARD: Herr Rogoff, was macht Ihnen aktuell am meisten Sorgen in der Weltwirtschaft?

Rogoff: Am meisten Sorgen macht mir die geopolitische Situation – und wie sich der Krieg in der Ukraine weiterentwickeln wird. Das ist klar das wichtigste Thema. Aus wirtschaftspolitischer Sicht beunruhigen mich zwei Dinge: erstens die Inflation. Dieses Thema wird uns noch eine Weile beschäftigen, denn ganz egal, was die Zentralbanken tun, sie werden die Inflation nicht so schnell runterbekommen. Die von den Energiepreisen angefachte Teuerung frisst sich gerade durch das ganze Wirtschaftssystem. Dazu kommen die Probleme mit den Lieferketten. Selbst wenn die Zentralbanken Zinsen stark erhöhen, ändert sich daran nicht so schnell etwas. Es besteht sogar die Gefahr einer Überreaktion.

STANDARD: Warum einer Überreaktion?

Rogoff: Leitzinsen werden weltweit in einem Tempo erhöht, wie wir das seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Es war sicher ein Fehler der Notenbanken, mit den Zinsanhebungen so lange zu warten, weil es ein bis zwei Jahre dauert, bis diese Schritte ihre volle Wirkung auf die Wirtschaft entfalten, das Wachstum und den Arbeitsmarkt dämpfen und damit die Inflation senken. Aber nun besteht die Gefahr, dass Zentralbanken auf diesen Fehler einen noch folgenreicheren folgen lassen, indem sie Zinsen zu sehr anheben im Glauben, damit ihre Glaubwürdigkeit wieder herzustellen zu können. In Wahrheit würden die damit eine große Rezession auslösen.

STANDARD: Sie sprechen von zwei großen Themen in der Weltwirtschaft. Was ist das zweite?

Rogoff: Der zweite Punkt ist subtiler als die Geschichte mit der Inflation, aber ebenso wichtig. Wir haben in der Weltwirtschaft einen Wendepunkt erreicht: Die Ära der extrem niedrigen Zinssätze, die unsere Welt seit der Finanzkrise 2009 geprägt hat, ist zu Ende. Der frühere US-Finanzminister, mein brillanter Harvard-Kollege Larry Summers, hat für diese Periode den Begriff der säkularen Stagnation geprägt. Summers behauptete, dass die Realzinsen, also die um die erwartete Inflation bereinigten Zinssätze, schon das ganze 21. Jahrhundert niedrig waren und diese Phase noch lange anhalten würde. Als einer der Gründe dafür nannte er die zunehmende Alterung der Gesellschaft. Werden Menschen älter, sparen sie mehr. Ein Überhang an Ersparnissen gegenüber Investitionen macht Geld billiger. Ökonomen, die Finanzwelt und Medien haben diese Behauptungen geglaubt.

STANDARD: Sie nicht?

Rogoff: Ich war skeptisch. Von meiner Forschung weiß ich, dass historisch ein starker Anstieg oder ein starker Rückgang der Realzinsen nie von Dauer ist. In meinen Augen hatten die niedrigen Zinsen zudem nichts mit Demografie und Ersparnissen zu tun.

STANDARD: Sondern?

Rogoff: Wir haben eine Phase mit außergewöhnlich niedrigen Investitionen nach der Finanzkrise erlebt. Haushalte und Unternehmen waren zurückhaltend, weil sie verunsichert waren. Das war der entscheidend, denn letztlich wird die Höhe der Realzinsen nicht von der Zentralbankpolitik bestimmt. Relevant ist nur, wie hoch die globalen Ersparnisse und wie hoch die globalen Investitionen sind. Diesen Kräften müssen sich auch Zentralbanken anpassen. Die niedrigen Investitionen haben also die Realzinsen in den vergangenen Jahren nach unten getrieben. Aktuell haben aber Kräfte die Oberhand gewonnen, die einen globalen Investitionsschub auslösen werden.

STANDARD: Welche Kräfte sind da am Werk?

Rogoff: Es sind gewaltige Investitionen in grüne Energie notwendig. Durch den Konflikt mit Russland braucht es zudem plötzlich viel Geld im Bereich fossiler Brennstoffe, selbst in Kernenergie wird investiert. Die USA und die Europäer rüsten zudem auf. Selbst wenn es also den Zentralbanken gelingen sollte, die Inflation runterzubekommen, werden die Zinssätze danach nicht so niedrig sein, wie wir das in der jüngeren Vergangenheit gewöhnt waren.

STANDARD: In Ordnung – die Episode der niedrigen Zinsen ist vorbei, ganz egal, was Zentralbanken tun. Aber ist das nun ein Problem für irgendjemanden?

Rogoff: Ein großes. Die niedrigen Zinsen der vergangenen Jahre waren die größte Sache in der Weltwirtschaft. Durch sie musste sich Geld andere Möglichkeiten suchen, um Rendite zu erwirtschaften: Deshalb sind die Vermögenspreise weltweit gestiegen. Ob nun bei Immobilien oder Bitcoin: Alles wurde in die Höhe getrieben. Das ist vorbei, darauf müssen wir uns erst einstellen. Konsequenzen hat das auch für die Staatsverschuldung. Angetrieben von Ökonomen wie Olivier Blanchard sowie von der Modern Monetary Theory hat sich der Glaube eingeschlichen, Staaten könnten sich grenzenlos verschulden, ohne dass das Konsequenzen haben würde. Das war immer falsch, aber nun wird es offensichtlich. Höhere Zinsen machen Schuldenmachen teurer.

Europa investiert wieder – und rüstet auf. Der polnische Präsident Andrzej Duda (2. v. re.) auf einer Militärmesse in Polen.
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STANDARD: Staatliche Vorhaben zu finanzieren wird also schwieriger?

Rogoff: Richtig. Das Problem ist, dass wir zusätzlich in eine Phase des niedrigen Wachstums kommen. Die Weltwirtschaft hatte sich in dieser Hinsicht schon vor dem Krieg in der Ukraine verändert: Die Globalisierung hat keinen Rückenwind mehr, sie wird uns keinen neuen Wachstumsschub bescheren. Die grüne Transformation ist notwendig, ist aber keine Wachstumspolitik. Viele Ökonomen haben behauptet, dass die Zinsen nur steigen werden, wenn das Wachstum höher ausfällt. Aber das stimmt eben nicht. Wir haben eine Kombination aus höheren Zinsen und niedrigerem Wachstum. Da ist die Frage, woher Wachstum in Zukunft noch kommen soll.

STANDARD: Und?

Rogoff: Die einzige Möglichkeit sind Strukturreformen. Das beinhaltet alle Dinge, die langfristig höheres Wachstum schaffen. Das können Investitionen in Infrastruktur sein, in Bildung, aber auch bessere Regulierung oder Deregulierung. Aber darauf gibt es derzeit im Westen nirgendwo politischen Appetit. Man hält den Begriff für neoliberal. Für die Politik ist Ungleichheit das zentrale Thema geworden. Das ist okay, es ist eine politische Entscheidung. Aber was es nicht mehr gehen wird, ist, dass Staaten ihre Ausgaben für Umverteilung über Defizite finanzieren. Der Staat druckt Geld und alles wird gut: Die Linke muss damit erst zurande kommen, aber mit dieser Idee ist es vorbei. Wer Einkommen in Zukunft umverteilen will, wird von jemandem nehmen müssen. Dabei wird es nicht reichen, Reiche zu besteuern, auch die Mittelschicht wird betroffen sein müssen.

STANDARD: Haben sich die Rechten schon auf diese neue Welt eingestellt?

Rogoff: Nein, auch nicht. Dort ist die Standardantwort auf fast alle Herausforderungen der Ruf nach Steuersenkungen. Das wird auch nicht funktionieren. Die zurückgetretene britische Premierministerin Liz Truss ist ja in gewisser Weise genau von diesen neuen ökonomischen Realitäten überrollt worden: Sie hat einen Haushalt vorgelegt ohne Reformen, mit hohen Ausgaben und Steuersenkungen. Die Märkte glaubten nicht daran.

STANDARD: Erwarten Sie Staatspleiten?

Rogoff: Es ist überraschend, dass wir bisher so wenige gesehen haben, Schwellenländer wie Indonesien, Mexiko, Brasilien, ja selbst die Türkei sind bisher nicht umgefallen. Ausfälle gab es in ärmeren Ländern wie Sri Lanka. Die Entwicklung wird aber auch für die Eurozone eine große Herausforderung. Denn der Kitt, der die Eurozone über die vergangenen Jahre zusammengehalten hat, waren die sehr niedrigen Realzinsen. Es war für Italien extrem billig, sich zu verschulden und an neues Geld zu kommen. Ich denke, Deutschland, Frankreich, Österreich und die Niederlande werden Italien weiter zur Seite stehen, aber es wird nicht mehr so billig sein und komplizierter werden.

STANDARD: Aber Experten sagen, die Eurozone sei stabiler geworden. Italien habe Probleme. Aber Portugal, Irland und Spanien gehe es gut.

Rogoff: Portugals Wirtschaft wächst kaum. Das Land folgt einer konservativen Fiskalpolitik. Ist es damit mittelfristig stabilisiert? Ich weiß es nicht. Irland geht es gut, ja. Ich meine dennoch, die Italiener können dem Vereinigten Königreich danken, dass sie im Moment nicht stärker im Fokus stehen. (András Szigetvari, 30.10.2022)


Wegen der Teuerung greift der Staat nun auch Unternehmen unter die Arme. Gut 140 Euro pro Kopf kostet das Hilfspaket jeden Österreicher und jede Österreicherin. Aber viele Betriebe geben ihre hohen Kosten weiter. Was fördern wir hier? Wirtschaftsminister Martin Kocher diskutiert mit Experten.
DER STANDARD