Die Sozialdemokratie will zwar Neuwahlen, will sich aber auf keine Ampelkoalition festlegen. In einem Land mit strukturell rechter Mehrheit müsste "die SPÖ im Wahlkampf etwas anderes signalisieren, als sie in Wahrheit anstrebt", sagt der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik. Die Publizistin Natascha Strobl hält im Gastkommentar dagegen, dass man nicht mit denselben Koalitionstaktierereien weitermachen könne.

Für SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner ist die Regierung am Ende. Am Mittwoch will die SPÖ im Parlament einen Neuwahlantrag einbringen.
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Krisenzeiten sind eine Zeit der Unordnung und Unwegbarkeit. Will man Krisen lösen, dann braucht es vor allem eines: Klarheit. Diese Klarheit kann autoritär hergestellt werden, durch kulturkämpferische Ausschlüsse, oder demokratisch. Demokratisch für Klarheit sorgen heißt, in erster Linie nicht damit weitermachen, was überhaupt erst zu dieser Krisensituation geführt hat.

Soll heißen: andere Politik, andere Inhalte, anderes Verhalten. Für Österreich bedeutet das, dass man nicht mit denselben Koalitionstaktierereien weitermachen kann. Links blinken und dann doch wieder rechts abbiegen. Oder umgekehrt. In diesem Verständnis ist Politik wie 3D-Schach, und nur die schlauen (und gut bezahlten) Beraterinnen und Berater in den Parteizentralen überknausern, was hier wirklich gespielt wird. Jeder ein kleiner Frank Underwood. Das ist genau die Art von Politik, die das System Kurz auf die höchste Spitze getrieben hat. Welchen Sinn hätte es für Parteien, die dezidiert eine Alternative dazu sein wollen, genau dort (nur handwerklich schlechter) weiterzumachen?

Das Herumtaktieren und Sich-den-Schmutz-unter-den-Fingernägeln-nicht-Gönnen sowie die wenig berauschenden Kompromisse der großen Koalition haben eine Figur wie Sebastian Kurz erst möglich gemacht. So war sein erstes plakatiertes Versprechen auch jenes von Klarheit. Das zweite war jenes von einer neuen Zeit. Es ist kein Fehler, diese Versprechen auf demokratische und solidarische Art und Weise zu erfüllen.

Radikale Sachlichkeit

Für SPÖ, Grüne und Neos könnte das Folgendes bedeuten: ein ausverhandeltes Programm vorlegen, das sich dazu verpflichtet, der krisenhaften Gegenwart in aller sachlichen Radikalität nachzukommen. Nicht "more of the same", sondern ganz anders. Nicht moderat und bloß nicht zu viel verändern, sondern alles ändern, was diese Krisen perpetuiert und ihre Lösungen verhindert. Das gilt zuerst für die Klimakrise, die nicht einfach irgendwie gelöst werden kann, sondern nur demokratisch und im sozialen Ausgleich. Das dürfen keine Stehsätze bleiben, denn es hängt nicht weniger als das Überleben großer Teile der Menschheit auf diesem Planeten davon ab.

Zweitens eine völlige Tabula rasa in allen Strukturen, die Korruption oder auch nur Günstlingspolitik zulassen. Angefangen bei der Inseratenkorruption über Auftragsvergaben bis zu Postenbesetzungen muss es zu so durchgreifenden Änderungen kommen, dass die Thomas Schmids und Beinschab-Tools dieser Republik schlicht nicht mehr möglich sind.

Mit diesen beiden Anliegen hätte eine Regierung, so sie ihre Aufgabe ernsthaft betreibt, genug an der Hand. Es kommen aber eben noch Pandemie, Inflation und Energiekrise dazu. Und viele verdeckte soziale Krisen, wie zunehmend schiefe Mietenmärkte oder ein Bildungssystem, das noch immer nach der Geldbörse der Eltern aussiebt und in dem Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Schülerinnen und Schüler gleichermaßen aufgerieben werden. Oder ein Gesundheits- und Pflegesystem, das maßgeblich auf der Selbstausbeutung der darin beschäftigten Menschen aufbaut. Und und und.

Ringen um Mehrheiten

Für all diese Themen und das Finden von Lösungen kann man um Mehrheiten werben. Indem man die Probleme benennt und klar aufzeigt, welche Schritte man setzen möchte, um sie zu lösen. Nicht mit Floskeln, nicht in naivem Pathos, sondern ganz klar und nachvollziehbar.

Politik ist kein House of Cards, das nur ein paar wenige verstehen. Politik ist das Ringen um Mehrheiten. Das kann man auch auf Augenhöhe und ohne unsympathisches Taktieren machen. Indem man einfach ohne Netz und doppelten Boden und ohne Hintertürchen darlegt, was man möchte und wie man dort hinzukommen gedenkt. Man muss dazu weder irgendetwas verheimlichen noch andeuten und dann doch wieder das Gegenteil machen. Hallo, das ist das Programm einer Ampelkoalition. Diese zehn Punkte sind unsere großen Themen. Wir sind so mutig und legen sogar eine Liste von Ministerinnen und Ministern vor, damit völlig klar ist, was hier zur Abstimmung steht. Das wäre unsere Präferenz. Sollte das nicht gehen, dann werden andere Mehrheiten verhandelt (oder auch nicht). Sobald es sich ausgeht, machen wir es genau so.

"Das Gegenteil der umfragenbasierten Politik des System Kurz."

Sich absichtlich einzuschränken und die vermeintliche Verhandlungsbasis zu nehmen mag in der alten Normalität der behäbigen großen Koalitionen ein No-Go gewesen sein, doch diese Realität existiert nicht mehr. Jetzt ist eine Selbsteinschränkung viel besser, weil sie für Klarheit sorgt. Nicht zuletzt für Klarheit, wofür man steht und was man möchte. Es ist das Gegenteil der umfragenbasierten Politik des System Kurz. (Natascha Strobl, 29.10.2022)