Im Gastkommentar fordert Nikolaus Kowall, Ökonom und SPÖ-Bezirksfunktionär: "Wer Steuern zahlt, soll mitbestimmen können."
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"No taxation without representation" – unter diesem Slogan marschierten Befürworterinnen und Befürworter der US-amerikanischen Demokratie vor 250 Jahren gegen den Zwang der britischen Krone, Steuern zu zahlen, ohne eine Vertretung im Parlament zu haben. Wer Steuern zahle, müsse auch ein Wahlrecht besitzen, lautete die simple Forderung: Alles andere sei Tyrannei, so der Aktivist James Otis Jr., der bis heute als einer der Gründerväter der US-amerikanischen Unabhängigkeit gilt.
Die grundlegende Frage der Legitimität politischer Systeme beschäftigt uns heute in Österreich ähnlich wie zur Zeit der Unabhängigkeitskriege. Wie repräsentativ ist unsere österreichische Demokratie? In Österreich sind mittlerweile 750.000 Menschen erwerbstätig – zahlen also Steuern und Sozialversicherungsbeiträge –, aber nicht wahlberechtigt. Das entspräche quasi ganz Tirol ohne aktives und passives Wahlrecht.
Fragmentierte Gesellschaft
In Österreich schrumpft der Anteil derjenigen, welche durch das demokratische System repräsentiert werden und mitbestimmen dürfen. Bei der Nationalratswahl 2019 waren erstmals seit Jahrzehnten weniger Menschen wahlberechtigt als bei den vorangegangenen Wahlen. Die Anzahl der Wahlberechtigten wird auch in Zukunft weiter sinken, obwohl die Bevölkerung wächst. Die Repräsentationskraft der österreichischen Demokratie schwindet nicht nur wegen der Zuwanderung, sondern auch weil das Wahlrecht von in Österreich geborenen Jugendlichen nach wie vor an die Staatsbürgerschaft der Eltern gebunden ist. Deutschland hat dieses Abstammungsprinzip vor 20 Jahren abgeschafft.
Kritikerinnen und Kritiker einer Ausweitung des Wahlrechts befürchten, dass politisch radikale Bewegungen entstehen könnten, was die Fragmentierung der Gesellschaft vorantreiben könnte. Das Gegenteil ist richtig: Die tatsächliche Fragmentierung findet durch den faktischen Ausschluss von gebürtigen Österreicherinnen und Österreichern vom Wahlrecht statt.
Bizarre Annahme
Diese Ungerechtigkeit zu beseitigen würde die Identifikation mit der Republik deutlich verbessern. Die Betroffenen über die Entwicklungen in Österreich mitbestimmen zu lassen wäre eine angemessene Form des Respekts und würde für Verbundenheit mit ihrer neuen Heimat sorgen. Dies dürfte Menschen für religiöse oder nationalistische Ideen aus den Herkunftsländern (oftmals ihrer Eltern oder sogar Großeltern) deutlich weniger empfänglich machen. Fakt ist außerdem, dass Deutsche (darunter viele Studierende) die größte ausländische Gruppe darstellen, gefolgt von rumänischen, serbischen und türkischen Staatsangehörigen. Dass diese Gruppen sich zu einer homogenen, religiösen Lobby-Gruppe zusammenschließen, ist eine bizarre Vorstellung und zeigt, wie manipulativ die Diskurse rund um Migration geführt werden.
Tatsächlich haben wir es beim Thema Wahlrecht viel weniger mit einer ethnischen als zunehmend mit einer sozialen Frage zu tun. Von den 750.000 Erwerbstätigen ohne Wahlrecht stammen nur 100.000 aus Westeuropa und Nordamerika. Die Deutschen sind zwar die größte Einzelgruppe, aber schon rumänische und serbische Staatsangehörige zusammengerechnet übertreffen die Anzahl deutscher Staatsangehöriger.
"Zu behaupten, die Wiener Arbeiterschaft ist von der politischen Mitsprache ausgeschlossen, ist bald keine Übertreibung mehr."
Die ausländischen Arbeitskräfte pflegen deine Oma, schneiden deine Haare im Friseursalon, schleppen dir das Amazon-Paket die Treppen rauf, schlichten für dich Regale im Supermarkt, bringen dir im Zug einen Kaffee mit dem Wagerl oder reparieren deinen Internetanschluss. Von den anderthalb Millionen Arbeiterinnen und Arbeitern in Österreich haben schon 40 (!) Prozent kein Mitbestimmungsrecht.
Umso geringer der soziale Status, umso größer das Problem: Während bei den Handwerkerinnen und Handwerkern ein Viertel keine Staatsbürgerschaft hat, sind es bei den Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeitern schon mehr als die Hälfte. In Wien sind die Zahlen noch wesentlich höher, dort dürfen acht von zehn Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeitern nicht wählen. Zu behaupten, die Wiener Arbeiterschaft ist von der politischen Mitsprache ausgeschlossen, ist bald keine Übertreibung mehr. Die Leute in den härtesten Jobs zahlen Einkommenssteuer, Umsatzsteuer, Mineralölsteuer und Sozialversicherungsbeiträge, aber über die Verwendung des Geldes dürfen sie politisch nicht mitbestimmen.
Politische Exklusion
Der Mitbestimmungs-Gap wird immer größer, denn die Zahl der Menschen ohne Wahlrecht wird in den nächsten 20 Jahren voraussichtlich um 28 Prozent steigen. Langfristig steuern wir in den Städten ohnedies auf eine Situation zu, in der eine bioösterreichische obere Mittelschicht einer migrantisch geprägten Arbeiterschaft gegenübersteht. Jedes Jahr verstirbt eine Kohorte von Alten, unter denen die Bioösterreicherinnen und Bioösterreicher noch die überwiegende Mehrheit stellten. Am Arbeitsmarkt rückt dagegen eine Kohorte von Jungen nach, in der es noch weniger mit österreichischer Staatsbürgerschaft gibt als davor.
Durch die bewusste politische Exklusion einer größer werdenden Gruppe treiben wir die faktische Errichtung einer Zweiklassengesellschaft voran. Um dieser gefährlichen Tendenz entgegenzuwirken, sollte diese ethno-soziale Spaltung nicht noch weiter durch die Politik befördert, sondern durch ein Angebot der politischen Teilhabe eingedämmt werden.
Wer Steuern zahlt, soll mitbestimmen können. Was in der ältesten Demokratie vor 250 Jahren wichtig war, gilt für uns heute umso mehr. Wer eine gewisse Anzahl an Jahren durchgehend in Österreich gelebt hat oder sogar hier geboren ist, sollte politisch mitbestimmen dürfen – unabhängig von der Staatsbürgerschaft. (Nikolaus Kowall, 1.11.2022)