Manchmal stellt sich die Mutter höflich bei ihrer Tochter vor. Und dann blitzt wieder ein Erinnern auf.

Foto: Justin Paget

"Hallo, liebe Mama!" Ich rufe meine Mutter an. "Hallo, liebe Mama!", sagt meine Mutter retour. Sie kann nicht mehr gut telefonieren. Manchmal schaffe ich es noch, etwas zu erzählen, dann sagt sie: "Ich leg jetzt auf." Und ich, die ich jahrzehntelang geflucht habe, wenn sie in meinen Augen zu früh am Morgen angerufen hat (also immer), bin traurig.

Meine Mutter hat Demenz, aber nein, sie leidet nicht daran. Die, die sich deshalb aufregt, bin nämlich hauptsächlich ich, sie tut das schon lange nicht mehr. Aber ich habe Zeit gehabt, mich an diese Tatsache zu gewöhnen, seit durch eine plötzliche Krankheit meines Vaters das gut gebaute Konstrukt der Eltern mit einem lauten Knall auseinanderbrach.

Sie konnte noch Auto fahren, er sich Dinge merken, sie haben sich erstaunlich gut und elegant durchgeschwindelt, beide, und der eine vergessene Termin ist uns nicht aufgefallen und mancher Gefühlsausbruch ein bisschen rätselhaft erschienen. Als mein Vater dann sehr lange im Krankenhaus war, wurde mir hinterbracht, dass meine Mutter sich im Krankenhaus verlief, obwohl sie fast jeden Tag auf Besuch war.

Neuer Nebenjob

So hat es begonnen, und manchmal frage ich mich mit großer Verwunderung, wie ich das alles bewältigt habe, ohne einfach irgendwann laut schreiend zu platzen, die Besuche im Krankenhaus, die Organisation der Pflege, der Kampf um die Pflegestufe, all das in meinen "goldenen" Stunden, nämlich jenen mit Kinderbetreuung, neben der eigenen Erwerbsarbeit. Denn so gut wie alle Amtswege und Telefonate erledigt man am besten vormittags. Überall scheint man davon auszugehen, dass es eine Frau gibt, die nicht arbeitet, und zu beliebigen Vormittagsterminen dafür Zeit hat. Ich will nicht wissen, wie viel Geld Menschen nicht bekommen, weil sie keine Zeit, keine Sprachkenntnisse, keine unterstützende Struktur haben, aber ich kann es mir denken. Die Übernahme der Erwachsenenvertretung und die damit einhergehende Dokumentation. Die zusätzliche Steuererklärung (viel Pflegebedarf kann man absetzen!).

Jedenfalls hat man ihn dann über Nacht, diesen neuen Nebenjob. Ich weiß eigentlich nicht, wo ich die Stunden hernehme. Aber es ist der alte Lieblingswitz einer Freundin, die Grafikerin ist. "Es ist sich alles noch immer ausgegangen."

Aber es gibt auch lustige Momente – als meine Mutter zur Kontrolle im Krankenhaus war, war ihre Diagnose offenbar nicht vom Pfleger zu Hause via Rettung bis auf die Station durchgedrungen. Ein besorgter Arzt rief mich nachts an und erklärte mir, er befürchte, sie hätte Demenz. Ja, das wissen wir doch, sagte ich lachend – schon lange. So ändert sich die Perspektive. Die anderen Schwestern hängten Küchengeschirr an die Tür, als sie nachts herumzugeistern begann. Denn auch wenn es sich anfühlt, als passierte dies das erste Mal auf der Welt – verwirrte alte Menschen sind die Normalität, nicht die Ausnahme.

Not my real mom?

Meine Mutter ist nach der anfänglich heftigen Umstellung – täglich 15 Telefonate, "Wir haben kein Geld!", "Es wird kalt im Haus!", "Haben wir genug Geld? Bist du sicher?" – schon aus dem Gröbsten heraus. Die Ängste sind nicht mehr da. Dass wir wegen des Autofahrens jemals heftig und wochenlang gestritten haben, ist eine sehr vage Erinnerung in der Vergangenheit. Meine Mutter hat mittlerweile vergessen, dass sie je Auto gefahren ist. Die Telefonabrechnung habe ich mir aufgehoben, damit ich später noch weiß, wie es war.

Meine Nummer. Immer wieder meine Nummer. Seitenweise meine Nummer. Und die von der Zeitansage. Da hat sie gelebt, zwischen "Wir haben kein Geld!" und "Und welcher Tag ist überhaupt?". Und ich habe jedes verdammte Mal abgehoben, bis ich mir zum gut investierten Preis von 100 Euro pro Stunde von einer Therapeutin sagen ließ: "Sie müssen nicht immer abheben. Sie ist nicht alleine zu Hause." Ja, natürlich. Aber sie ist doch meine Mutter. Und ich dachte damals noch, dass man diesen Ängsten mit Lösungen begegnen kann. Inzwischen weiß ich es besser, aber in diesem Prozess weiß man ständig zu spät etwas besser. Ich habe auch das inzwischen zu akzeptieren gelernt.

Inzwischen ist meine Mutter ein freundliches Orakel. Eine Weile lang hat sie ständig Bücher im Haus herumgetragen, aber nicht mehr gelesen. Sie waren durch ihre Zusammenstellungen kleine Botschaften aus der Wirrnis. Ich habe inzwischen überrissen, warum sie selbst mich damals immer mitgenommen hat ins Altersheim zu ihrer eigenen Mutter. Es war nicht wegen der Großmutter (ja, wir haben Großmutter gesagt), sondern sie wollte da nicht allein sein. Auch ich komme nicht gern allein. Meine Familie spielt im Garten Ball. "Ah, da ist ja der Kleine", sagt meine Mutter. So klein ist er gar nicht mehr.

Die Sache mit dem Herzausreißen

Eine Weile lang hat das Mama-Orakel gern alte Fotos aus den Laden gekramt und im Haus verteilt auf allen Oberflächen. Irgendwo bin ich drauf als Teenager. "Wer ist denn das?", hab ich sie gefragt, geniert hab ich mich, weil ich immer noch von ihr erkannt werden will. "Ein liebes Mädchen", hat sie gesagt. Einmal nahm sie freudestrahlend meine Hand und stellte sich vor: "Ich bin die Mutter!" Ja, Mama, ich weiß.

Es ist entzückend, und es reißt einer das Herz heraus, und manchmal ist es schön, und manchmal möchte man nach solchen Besuchen einfach nur drei Stunden wie ein Stein schlafen, so müde ist man vor Erschöpfung, obwohl gar nicht viel passiert ist. Ich weiß, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich diese Pflegearbeit nicht selbst erledigen muss, "nur" die Organisation überhabe. Und doch bin ich unendlich müde zwischendurch.

Die Zeit des Fragens ist jedenfalls vorbei. Wir sitzen nebeneinander, und ich halte ihre Hand, und ich sage: "Ich habe dich lieb" – völlig unvorstellbar früher, beides. Liebsein war keine wichtige Kategorie, wohl auch nicht in ihrer Kindheit. Aber das ist jetzt egal, wo sich niemand mehr an die alten Regeln erinnern kann. Einmal habe ich meine Mutter gefragt, ob sie noch weiß, wie sie heißt? "Weißt du selbst, wer du bist?", wollte sie wissen. So leicht über den Tisch ziehen lässt sie sich nicht.

Getanzt haben wir, im Radio lief Stayin’ Alive (nie hätte sie selbst so einen Sender gewählt). Und einmal als sie das Italienisch der Sprach-Lern-App hörte, hat sie auf Englisch geantwortet. Das mit dem Vergessen ist nämlich eine sehr geheimnisvolle Angelegenheit. Azzurro von Celentano hat sie jedenfalls freudigst mitgesungen, die Mutter. Ich hoffe, ich schaffe es noch – nicht erst wieder zu spät –, noch andere solche Schlüssel zu ihrem Inneren zu finden. Vielleicht ist es besser, wenn Adriano statt mir redet. Noch kann sie es, lustig sein, feine Ironie sogar, an den guten Tagen – an den schlechten Tagen sagt sie nichts und ist unrund, nervös.

Wir andere Menschen

Es dauert, bis man sich daran gewöhnt hat, dass diese Mutter, die man hatte, nicht mehr hier ist, obwohl sie anwesend ist. Es ist nicht immer traurig, manchmal ist es sogar wurscht. Und manchmal entdecke ich auch eine neue Freiheit darin – für meine Mutter, für die alle früheren Sorgen völlig bedeutungslos sind. Und für mich, der niemand mehr erklärt, was und wie es zu tun wäre, die nicht alle Vorgeschichten ständig mittragen muss. Und das macht uns beide zu anderen Menschen. (Julia Pühringer, 1.11.2022)