Ein unbeschwerter Halloween-Abend wurde an dieser Engstelle in Seoul zur Katastrophe.

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Es sei schaurig gewesen, erzählten nach der Katastrophe von Seoul Überlebende, wie in der Menge zunächst die Fähigkeit verlorengegangen sei, sich nach eigenem Willen zu bewegen – und dann die Menschen wie Dominosteine umgefallen seien. Massenpanik, das deutsche Wort, das für Vorgänge wie jenen vom Samstagabend in der koreanischen Hauptstadt verwendet wird, ist dabei eigentlich eine Fehlbezeichnung. Denn die Panik entsteht meist erst dann, wenn der Unfall schon im Gange ist – und gerade die Tatsache, dass viele von der laufenden Katastrophe nichts mitbekommen und weiter unbesorgt in Engstellen drängen, kann dazu beitragen, dass sich das Unglück fortsetzt.

Rund vier Menschen pro Quadratmeter, davon geht man aus, sind die Grenze für Sicherheit in der Menge. Davor ist es möglich, sich einigermaßen selbstbestimmt durch große Gruppen zu bewegen. Danach wird es gefährlich. Die Bewegung von großen Ansammlungen gleicht dann einer zähen Flüssigkeit. Jene, die von hinten heranrücken, erzeugen Druck auf diejenigen, die weiter vorne sind. Und diese können dieser Kraft nur noch nachgeben. Sie werden von der Menge vor sich hergespült, können ihre Geschwindigkeit nicht mehr regulieren und nicht mehr stehenbleiben. In den meisten Fällen können sie auch nicht mehr frei entscheiden, wo sie hingehen wollen. Das Schlimmste, beschreiben Überlebende, sei in dieser Phase das Gefühl der Fremdbestimmung.

Katastrophale Kettenreaktion

Unmittelbar gesundheitsgefährdend ist das noch nicht: Auch in einer solchen Menge bleibt genug Raum zu grundlegenden Bewegungen und zum Atmen, Menschen sind noch nicht in einem engeren Sinne eingeklemmt. Das passiert erst, wenn der Druck sich weiter erhöht. Etwa acht bis neun Personen pro Quadratmeter sind dafür die Grenze – und dann kann es schnell gehen. Rund 30 Sekunden dauert es, bis der Druck körperliche Folgen hat, es setzt Schwindel ein, und die Sinne können nachlassen. Möglich ist dann auch, dass der Druck das Atmen insgesamt verunmöglicht. In vielen Fällen von Massenpanik ist Ersticken die Todesursache.

Damit das passiert, fehlt vom Gedränge allerdings noch ein weiterer Schritt: ein Hindernis. Das kann etwa eine Mauer oder eine Absperrung sein, auf die die Gruppe der Vorangehenden trifft – oder, wie am Samstagabend in Seoul, eine Engstelle. Auch die Menschen selbst können dann zum Hindernis werden – und auch das dürfte am Samstag in Seoul passiert sein. Werden Druck und Geschwindigkeit zu groß, können jene, die vorangehen, leicht stolpern. Weil die unmittelbar Hinterherlaufenden wegen des Drucks ihrer Hinterleute nicht stehenbleiben können, fallen sie um und danach auf die Körper jener, die schon auf dem Boden liegen – und eine katastrophale Kettenreaktion nimmt ihren Lauf.

Zu vermeiden ist ein solcher Ausgang, wenn sich eine kritische Menge schon einmal an einem engen Ort aufgebaut hat, oft nur noch durch Glück. Vor allem Einzelne, die sich in dieser Situation befinden, haben kaum Möglichkeiten, sich zu schützen. Am besten sei es hier noch, dem Druck der Gruppe nachzugeben und mit der Fließgeschwindigkeit mitzugehen – stehenzubleiben oder gar zu versuchen, Hinterherkommende aufzuhalten, sei keine gute Idee, heißt es. Allenfalls können – und sollten – Betroffene versuchen, sich zugleich mit der Vorwärtsbewegung auch seitwärts zu bewegen, um so einen Ausweg aus dem Gedränge zu finden.

Hilfreiche und gefährliche Absperrungen

Nötig ist aber vor allem Prävention – und da sind mehrere Maßnahmen möglich. Zum einen können das Absperrungen sein, die von vornherein eine Ansammlung an einem engen Ort verhindern – und die so eingerichtet sind, dass der vom hinteren Teil der Gruppe aufgebaute Druck nicht bis zur Spitze einer großen Gruppe weitergegeben werden kann. Andere Absperrungen, nämlich jene, auf die eine große Menschentraube mit voller Wucht zulaufen könnte, sollten unbedingt vermieden werden.

Und außerdem hilft Koordination. Gibt es ausreichend Sicherheitskräfte, können diese die Menschenmenge von oben beobachten und bereits frühzeitig via Lautsprecher klare Botschaften senden, sofern sie Besorgniserregendes sehen. Denn wer von hinten in eine solche Gruppe hineindrängt, hat zu allermeist keine Ahnung, dass sich vorne schon eine Katastrophe abspielt. In Seoul sollen Menschen nur wenige Dutzend Meter vom Schreckensort noch gefeiert haben, als die Polizei eintraf – einfach weil sie nicht wussten, was sich in ihrer Nähe zugetragen hatte. (mesc, 30.10.2022)