Jürgen Sild, Geschäftsführer der Bestattung Wien, präsentiert den "lebenden Sarg" im Bereich für Naturgräber auf dem Zentralfriedhof.

Christian Fischer

Wien – Die "ultimative Naturbestattung" feierte man zuletzt am Wiener Zentralfriedhof, von einer "Revolution" und "Weltneuheit" war gar die Rede. Gemeint waren zwei Neuerungen auf der größten Ruhestätte des Landes, die auch eine der weitläufigsten Europas und zudem eine beliebte Sehenswürdigkeit der Bundeshauptstadt ist.

Dort, zwischen Tor zwei und drei gelegen, hat sich seit Ende Oktober zweierlei getan: Zunächst einmal wurde ein weiteres Areal für Naturbestattungen geschaffen. Bisher war diese naturnahe Variante in drei verschiedenen, über den Friedhof verteilten Abschnitten möglich.

Abbaubarer Sarg

Nun steht dafür ein eigener, bislang ungenützter Bereich namens "Wiener Naturgrab" zur Verfügung. Die zweite Neuerung: In dieser neuen Gruppe kann ein kompostierbarer Sarg eingesetzt werden. Üblicherweise setzte eine Naturbestattung eine Kremierung voraus, die anschließende Beisetzung erfolgte in einer verrottbaren Urne. Jetzt aber steht dafür in Wien erstmals auch ein biologisch abbaubarer Sarg zur Verfügung, der ohne Metalle oder Synthetikeinsätze auskommt.

Damit komme man "dem Wunsch vieler Menschen nach, vollkommen nachhaltig beigesetzt zu werden", sagt Renate Niklas, Geschäftsführerin der städtischen Friedhöfe. Denn nicht nur in Wien, generell gilt: Naturbestattungen boomen. Zwar ist bekanntlich nichts so sicher wie der Tod. Doch die Art der Grabgestaltung verändert sich.

Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine naturnahe Variante, weg von dicken Granitplatten, hin zu Pflanzenbewuchs und Baumbestattungen. Der Drang nach Individualität und Nähe zur Natur entspricht dem Zeitgeist, weshalb Bestattungsunternehmen dem Wunsch zusehends nachkommen. Vor allem jüngere Menschen und Befragte aus höheren Bildungsschichten zeigen sich in Umfragen offen für Alternativen zum klassischen Erdgrab.

Wer will, kann sich unter einer Blumenwiese oder einem Strauch, einem Familien- oder Freundschaftsbaum oder in einer Regenwasserurne bestatten lassen. Ober- und Niederösterreich bieten Beisetzungen in der Donau an, Tirol auf Almen – freilich nur mit entsprechender Genehmigung. Das Angebot ist vielfältig: Man kann Asche auch zu einem Diamantstein verarbeiten oder in einer Metallkapsel in einer Rakete ins Weltall befördern lassen. Selbst Haustiere können auf eigenen Friedhöfen begraben werden.

Die Anzahl der entsprechenden Anbieter wächst, eine zentrale Verwaltung gibt es nicht. In Österreich herrscht Friedhofszwang, die physischen Überreste jedes und jeder Toten müssen in Sarg oder Urne auf einer zweckgewidmeten Fläche aufbewahrt werden. Dieser Ort ist seit dem Mittelalter der öffentliche Friedhof in direkter Nähe zu den Kirchen in zentraler Lage. Aus hygienischen wie auch aus Platzgründen verlagerte man die Gottesacker allmählich an den Stadt- oder Ortsrand. Doch die Fläche ist begrenzt, sie zu vergrößern ist erstens schwierig und zweitens teuer.

Mehr Feuerbestattungen

Während zahlreiche andere Staaten in Europa den Friedhofszwang bereits aufgehoben haben, wurde die Regelung hierzulande nur stückweise gelockert. Naturbestattungen können inzwischen auch in Österreich abseits von Friedhöfen auf zugewiesenen, genehmigten Arealen stattfinden. Das Leichen- und Bestattungswesen ist in Österreich Landes- und Gemeindesache. Den Anfang machte die Stadt Salzburg 2009 als erste Gemeinde in einem österreichischen Bundesland. Einzig in Vorarlberg blieben die Bemühungen für eine Naturbestattung außerhalb des öffentlichen Friedhofs bis jetzt ohne Erfolg.

Dabei ist der Anteil der Urnengräber nirgendwo so hoch wie in dem westlichsten Bundesland: Aufgrund von Platzmangel in vielen Ortschaften und einem hohen Grundwasserspiegel liegt er dort bei 85 Prozent. Landauf, landab entscheiden sich allerdings immer mehr Menschen für eine Feuerbestattung: 80.000 Menschen sterben im Durchschnitt pro Jahr in Österreich.

Lag die Anzahl der Kremierungen 1995 noch bei 16 Prozent, macht diese Form der Bestattung inzwischen 50 Prozent aus – mit starken regionalen Schwankungen. Kremierungen galten im katholischen Glauben bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er-Jahren als Sünde. Muslime und Altchristen lehnen sie weiterhin ab, und auch nichtreligiöse Menschen entscheiden sich aus unterschiedlichsten Gründen dagegen. In Wien gibt es nun erstmals ein Angebot für jene, die eine Kremation ablehnen, aber eine Naturbestattung wünschen. "Wir sind stolz, diesen neuen Sarg exklusiv anbieten zu können", sagt Jürgen Sild, Geschäftsführer der Bestattung Wien.

Dem christlichen Glauben zufolge steigt mit dem Tod die Seele in den Himmel auf. Der Körper ruht unter der Erde, wo er im Lauf der Jahrzehnte zu Staub zerfällt. Bei einer naturnahen Beisetzung geht die Asche schneller in die Erde über. Der Pilz-Sarg zersetzt den Körper in noch kürzerer Zeit. "Die Verstorbenen kommen wieder in den Kreislauf der Natur zurück", beschreibt es Sild.

Der sogenannte lebende Sarg sieht aus wie Styropor, besteht aber aus einem Pilzgeflecht, das den Leichnam abbaut und die Erde von Schadstoffen reinigt. Eine Weltneuheit ist er genau genommen nicht, schließlich kam er bereits zum Einsatz. Entwickelt hat ihn das niederländische Start-up Loop Biotech, das eigenen Angaben zufolge bereits an die 300 Stück verkauft hat. Die Kooperation mit der Stadt Wien ist allerdings die erste große.

Auch eine Kostenfrage

Von den 55 Friedhöfen in Wien sind 46 in städtischer Hand. Zählt man Letztere zusammen, dann ergeben sie eine Fläche, die größer ist als die Donaustadt, der weitaus größte Bezirk. An Platz für die Verstorbenen mangelt es in der Hauptstadt nicht. Naturbestattungen machen hier gerade einmal 4,5 Prozent aller Beisetzungen aus. Die Tendenz gehe aber klar nach oben, sagt Friedhöfe-Wien-Chefin Niklas. Sie geht davon aus, dass diese Zahl markant steigen werde, da eine naturnahe Variante nun keine Feuerbestattung mehr voraus setzt. Die Nähe zur Natur über den Tod hinaus ist allerdings nicht der einzige Beweggrund für eine Naturbestattung: Schließlich spart man damit auch Geld. Eine klassische Erdbestattung umfasst neben den Kosten für einen Grabstein auch jene der teureren Instandhaltung und Grabpflege – was bei der Naturvariante wegfällt: Diesen Job erledigt in dem Fall die Natur. (Anna Giulia Fink, 1.11. 2022)