Kristina Mkhitaryan in der Rolle der Violetta Valéry in "La Traviata" an der Wiener Staatsoper.

Foto: Staatsoper/Michael Pöhn

Wien – Wie sich die Bilder gleichen. Auf den Brettern, die die Welt (be-) deuten, ploppen auf einer Videowall SMS von Violetta Valéry auf: "Ich hab Schiss!" Der Starinfluencerin (147 Millionen Follower) im goldglänzenden Kim-Kardashian-Look geht es gesundheitlich nicht gut, sie muss sich durchchecken lassen.

In der unmittelbaren Sitznachbarschaft füttert eine Besucherin ihr Smartphone und verschickt fleißig SMS. Wenn die junge Frau nicht mit ihrer Begleitung redet, vollautomatisiert Fotos von der Aufführung macht und sofort weiterschickt, langweilt sie sich. Im dritten Akt bleiben ihre Plätze frei.

Ja: Simon Stone, der goldgelockte Samson der Regiezunft, der Advokat der Gegenwart in der vergangenheitsseligen Welt des Musiktheaters, hat mit der Verlegung von Verdis Kurtisanenoper auf den Planeten Instagram seine Fähigkeiten als Zeitdiagnostiker souverän unter Beweis gestellt. In der aktuellen Aufführungsserie ist es Kristina Mkhitaryan, die die aufstrebende Gesellschaftsgröße gibt. Vor der Videowand, die überlebensgroße Bilder von ihr zeigt, singt die Russin am Samstagabend von ihrer Liebe zum Playboy Alfredo aus dem Germont-Clan. Er ist das junge, attraktive Gesicht des alten Geldes.

Polizei entfert Gast

Mkhitaryan macht das gut. Die 35-Jährige hat einen verführerisch weichen, haselnussfarbenen Sopran, mit dem sie gern schwebende, leise Töne produziert, aber auch dramatische Verzweiflungsattacken reiten kann. Ihr zur Seite verströmt Dmytro Popov als Alfredo den Glamour eines Sachbearbeiters, bewältigt die Partie mit seinem gut steuerbaren, verlässlichen Tenor aber tadellos. Samtweich und wendig der Bariton von Amartuvshin Enkhbat, der als Popovs Papa darstellerisch leider eine Leerstelle bleibt.

Eher glanzlos das Dirigat von Thomas Guggeis, kleine Schnitzer im zweiten und dritten Akt beeinträchtigen den Gesamteindruck minimal. In Summe ein bejubelter und doch eigenartiger Abend, dem die polizeiliche Entfernung eines anscheinend pöbelhaften Gastes eine überlange Pause bescherte. (Stefan Ender, 31.10.2022)