La’eeb ("supertalentierter Spieler"), das Maskottchen der WM, begleitet in Katar auf Schritt und Tritt.

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Dorsey: "Wozu wären die Leute in Europa bereit, um ihre eigene Kultur zu erhalten?"

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Am 20. November wird mit dem Spiel der Gastgeber gegen Ecuador die Weltmeisterschaft angepfiffen. Die Kritik am milliardenschweren Event im Emirat am Persischen Golf wird diesen selbst überdauern.

STANDARD: Hat der Fußball mit der WM in Katar seine Seele verkauft?

Dorsey: Das finde ich nicht. Katar bekam die WM zu einer Zeit zugesprochen, als die Skandale rund um die Fifa ihren Höhepunkt erreicht hatten. So wurde Katar zum Sündenbock für alles gemacht und in westliche Schubladen gesteckt. Wer bestimmt, dass ein Land zu klein ist, um eine WM zu veranstalten? Wer bestimmt, was Fußballtradition ausmacht? Und wie baust du überhaupt eine Tradition auf? Die Kataris sind fußballverrückt, haben hunderte Millionen Dollar für die WM ausgegeben, machen aber auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Die USA haben Soft Power in Form von Hollywood, Demokratie oder Football. Katar setzt auf Fußball.

STANDARD: Katar ist ein kleines Land zwischen den großen Regionalakteuren Saudi-Arabien und Iran. Ist die WM eine Art Lebensversicherung?

Dorsey: Katar hat 2,7 Millionen Einwohner, davon sind aber nur 300.000 Staatsbürger. Es gibt etwa 12.000 Soldaten, was gar nicht wenig ist für so ein kleines Land. Aber es ist egal, wie großartig das Militär ausgerüstet ist, in einem herkömmlichen Krieg mit Panzern, Artillerie und Marine würden sie keinen Tag durchhalten. Katar hat keine andere Wahl, als auf fremde Hilfe zu setzen – und setzt darum voll auf Soft Power. Sport ist ein Bein, dazu eine sehr offensive Außenpolitik und Investments weltweit. Katar ist neben den USA und Australien bereits eines der Hauptförderländer von Flüssiggas. Das alles macht Katar zu einem Land, das man verteidigen will, weil es auch im Eigeninteresse Europas liegt.

STANDARD: Katar teilt sich mit dem Iran das weltweit größte Erdgasfeld South Pars, ist also auf Teheran angewiesen. Wie wirkt sich das auf die Zusammenarbeit mit dem iranischen Feind Saudi-Arabien aus?

Dorsey: Die Beziehungen zwischen Katar und Saudi-Arabien sind nach dem mehrjährigen Boykott der Saudis noch immer belastet. Es sind die einzigen zwei islamischen Länder, in denen der ultrakonservative Wahhabismus Staatsdoktrin ist. Saudi-Arabien will eine Vormachtstellung in allen Bereichen, aber im Sport agiert man noch nicht so strategisch geschickt wie seine Nachbarn. Bahrain hat ein Formel-1-Rennen, die Vereinigten Arabischen Emirate haben Manchester City und die Klub-WM. Saudi-Arabien will sich gemeinsam mit Ägypten und Griechenland um die WM 2030 bewerben. Die Asien-Winterspiele sind noch kein PR-Coup.

STANDARD: Katar weist immer wieder auf gesellschaftspolitische Fortschritte im Land hin, bei Asylgesetzen, Pressefreiheit oder Menschenrechten. Ist die Wahrheit nicht ganz anders?

Dorsey: Die WM sorgt für Veränderung zum Positiven. Man kann aus westlicher Sicht argumentieren, dass Reformen nicht weitreichend genug sind. Aber Fakt ist, dass Katar der einzige Golfstaat ist, der ein Mindestgehalt zahlt, auch wenn es lächerlich wenig ist. Sie haben als einziges Land Betriebsräte, auch wenn diese wenig Einfluss auf Behörden und Wirtschaft haben. Aber sie haben welche. In anderen Golfstaaten bist du als Staatskritiker entweder nicht mehr am Leben oder im Gefängnis. In Katar geht Amnesty International ein und aus, Verträge mit WM-Kooperationsfirmen wurden mit Human Rights Watch gemeinsam ausgearbeitet, das hat es noch nie gegeben. Bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio echauffierten sich Kataris, warum so viele Sportler eingebürgert werden und nicht mehr Ärzte und Ingenieure. So beginnen hier Diskussionen, die es in anderen Golfstaaten noch gar nicht gibt. Es sind kleine Schritte.

STANDARD: Der Emir von Katar hat bekräftigt, dass bei der WM alle Menschen willkommen seien, auch Homosexuelle. Tamim bin Hamad al Thani sagte aber zugleich: "Wir erwarten Respekt für unsere Kultur." Homosexuelle Handlungen sind strafbar. Bleibt das ein Tabuthema?

Dorsey: Der Widerstand gegen LGBT ist so tief verankert in der Gesellschaft, selbst wenn du Homosexuellen Rechte zusprichst, niemand würde sie befolgen. Das Verbot ist noch sehr populär in der Bevölkerung, sie müssen Fans aber beherbergen. Bei der WM heißt das Motto in Katar "Leben und leben lassen". In Dubai hast du bis vor kurzem noch für das Küssen deiner Frau in der Öffentlichkeit Gefängnis riskiert. Es braucht starke Forderungen, aber der Wandel kann nicht von oben verordnet werden. Es ist ein Prozess, der Zeit braucht.

STANDARD: In der Bildung oder der Gesundheitsvorsorge genießen Katars Staatsbürger große Privilegien, ihr Pro-Kopf-Einkommen ist eines der höchsten weltweit. Haben die Leute Angst um ihre Pfründe und dass ihre alten Rituale verwässert werden?

Dorsey: Ich glaube, man muss das differenzierter sehen. In europäischen Ländern machen Migranten durchschnittlich etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus. Stellen Sie sich vor, es wären mehr als 80 Prozent wie in Katar. Stellen Sie sich vor, Sie holen sich ihr Brot in der Bäckerei und müssen eine andere Sprache sprechen. Die meisten Golfstaaten haben sehr strenge Einbürgerungsregeln, mittlerweile gibt es erleichterte Visabedingungen. Katar befindet sich im Wettbewerb um Talente und ist deshalb gezwungen, seinen Arbeitsmarkt zu liberalisieren.

STANDARD: Ist die Demografie Katars so noch aufrechtzuerhalten?

Dorsey: Nein. Und ich weiß auch nicht, ob es eine Lösung dafür gibt, ohne den Staat und seine Kultur vollkommen zu verändern. Dann ist Katar nicht mehr Naher Osten, sondern Teil Asiens oder Afrikas. Denken Sie an die Migrationsdebatten in Europa und ihre Auswirkungen – und das bei deutlich niedrigeren Zahlen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Wozu wären die Leute in Europa bereit, um ihre eigene Kultur zu erhalten? Wären es auch autokratische Maßnahmen? Talente für den Arbeitsmarkt kann Katar einkaufen. Aber diese Leute bleiben nicht lange und sind kein Teil der lokalen Kultur.

STANDARD: Viele Spieler werden bei der WM in Topform sein, stehen voll im Saft. Es wird Lobpreisungen auf den Sport geben. Was wird abseits der Spiele von der WM bleiben?

Dorsey: Die Reformen werden nicht zurückgenommen, jeder, der etwas anderes behauptet, versteht das Land nicht. Die Kataris sind viel zu smart. Das Land wird weltpolitisch weiter relevant bleiben, nicht nur dank seiner Gaslieferungen. Das sind keine Showeffekte. Die katarische Gesellschaft wird sich weiter wandeln und liberalisieren, halt nur nicht in dem Tempo, wie sich der Westen das wünscht. Weitere Großevents werden diese Entwicklung unterstützen.

STANDARD: Wer wird Weltmeister?

Dorsey: Ich habe keine Ahnung, wer gewinnen wird. Ich bin kein Fußballfan, beschäftige mich nur mit Fußballpolitik. Ist ein Spieler politisch relevant, dann weiß ich etwas über ihn. Ich werde mir die Spiele nicht anschauen. Das einzige Match, das für mich interessant sein wird, ist USA gegen Iran. (Florian Vetter, 31.10.2022)