In vielen Wiener Gastgärten sitzen die Gäste derzeit auch bei kälterem Wetter noch draußen.
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Die Äußerungen mancher Expertinnen und Experten klingen bedrohlich. "Die neuen Wellen wärmen sich gerade auf. Sie brauchen noch ein paar Wochen, aber dann wird es weit aufwärtsgehen mit den Infektionszahlen", erklärte der Molekularbiologe Ulrich Elling gerade im STANDARD-Interview. Er sagt auch: "Wir erwarten Virusvarianten, die nach jetziger Datenlage den Immunschutz noch deutlich besser umgehen."

Gleichzeitig sinkt derzeit die Zahl der Neuinfektionen – auch die Bettenbelegung in den Spitälern nimmt ab. Kurzfristig hieß es, die Maskenpflicht könne im Oktober zurückkommen – passiert ist das nie. Es gelten kaum Corona-Maßnahmen, in der türkis-grünen Regierung gibt man sich aktuell relativ gelassen. Was bedeutet eine bevorstehende Welle also wirklich? Was ist für Herbst und Winter zu erwarten – pandemisch, medizinisch, politisch? DER STANDARD hat nachgefragt.

1. Was sagen die Fachleute?

Die Virologin Dorothee von Laer von der Med-Uni Innsbruck blickt nahezu unbesorgt auf die nächsten Monate – wenngleich die Situation heuer wohl besonders schwierig einzuschätzen ist, wie sie betont. "Wir haben im Oktober noch nie einen Abfall der Zahlen ohne eindämmende Maßnahmen gesehen, so wie wir das heuer sehen", sagt sie.

Dafür gebe es zwei mögliche Erklärungen: Die niedrigen Zahlen könnten erstens daran liegen, dass der Oktober heuer besonders warm war. Wäre das der Fall, werden sie zum Temperatureinbruch im November wohl "richtig hochschnellen", meint von Laer. Die zweite Erklärung könne aber auch die recht gute Immunitätslage sein. Dann würde sich die Situation in eine Richtung bewegen, in der das Virus künftig über die natürliche Immunität in der Bevölkerung kontrolliert wird. "Beides ist denkbar", sagt von Laer, wobei sie persönlich nicht glaube, dass die Herbstwelle schon vorbei ist. Die aktuell niedrigen Zahlen würden wohl doch eher am warmen Oktober liegen.

Die Wissenschaft untermauert diese Annahme. Eine Studie des Komplexitätsforschers Peter Klimek von der Med-Uni Wien konnte kürzlich nachweisen, dass das Wetter einen enormen Einfluss auf die Inzidenz hat. Zum Temperaturabfall im November kommen zudem auch noch andere Viruserkrankungen, wie Christoph Steininger, Virologe an der Med-Uni Wien, betont. Die Zahlen werden also wieder steigen, glaubt auch Steininger, aber die Krankheitsverläufe bleiben weiterhin wohl eher mild: "Das liegt daran, dass sich der Fokus des Virus von der Lunge nach oben in die Bronchien verschoben hat", erklärt er.

Ähnlich entwarnend – aber mit erhobenem Zeigefinger – reagiert auch der Virologe Norbert Nowotny auf die zu erwartende neue Herbstwelle. Die bisherigen Virenentwicklungen ließen ihn allerdings vermuten, dass die Pandemie im nächsten Sommer keine Wellen mehr erzeuge und zur "normalen" viralen Atemwegsinfektion heruntergestuft werden könne. Nowotny ist jedenfalls überzeugt: "Es wird keinen Lockdown mehr geben und keine Zwangsmaßnahmen, aber klare Empfehlungen." So sei eine Auffrischungsimpfung gegen die BA.5-Variante geboten sowie auch FFP2-Masken bei größeren Menschenansammlungen wie in der U-Bahn oder in Straßenbahnen. Und Testen sei natürlich "zweckmäßig".

2. Wie sieht die Situation bezüglich neuer Varianten aus?

Lange wurde das Infektionsgeschehen stets von einer Virusvariante dominiert. Jetzt aber wird es immer unübersichtlicher. Es kursieren viele Virusmutationen gleichzeitig. Im Moment steigen etwa die Infektionen mit der Variante BF.7, das ist die Omikron-Variante BA.5 mit einer Zusatzmutation. Etwa 25 Prozent aller gemeldeten Infektionen in Österreich sind aktuell auf BA.7 zurückzuführen.

In den USA setzen sich währenddessen BQ.1 und BQ1.1 durch, hierzulande machen sie zusammen aktuell etwa zwölf Prozent des Infektionsgeschehens aus. Das European Centre for Disease Prevention and Control prognostiziert, dass die beiden Linien auch hierzulande im Winter dominieren werden. "Das liegt daran, dass sie den Immunschutz noch ein Stück besser umgehen. Das Virus verändert sich nun nicht mehr sprunghaft, sondern es entwickelt sich langsam und schrittweise weiter", erklärt Virologin Dorothee von Laer.

Wie gut eine Infektion mit früheren Varianten vor den vielen neuen Varianten schützt, kann man noch nicht sagen. Dazu fehlen verlässliche Daten. Fachleute wie von Laer sind aber zuversichtlich, dass hybrid immune Menschen – also jene, die dreifach geimpft und von einer Omikron-Infektion genesen sind – weiterhin gut geschützt sind.

3. Was sagt die Politik?

In der Bundesregierung wird die Lage fast mit betonter Gelassenheit bewertet. Es gebe einen Variantenmanagementplan, heißt es im Gesundheitsministerium – und nach diesem werde gehandelt. In der Regierung wird nun mit mehreren Wellen über Herbst und Winter gerechnet. Derzeit sehe es jedoch so aus, dass Omikron mit seinen Subtypen die dominierende Variante bleibe, wodurch auch nicht von einer prozentuellen Zunahme an schweren Verläufen ausgegangen werden müsse.

Auch für den ÖVP-Gesundheitssprecher Josef Smolle sind Sachlage und Strategie für die Politik klar: Im Variantenmanagementplan seien die Maßnahmen klar festgelegt – vom Best Case bis zum Worst Case. "Wir sind derzeit sehr stabil unterwegs, aber es heißt natürlich weiter achtsam bleiben", sagt Smolle.

Dennoch sei er überzeugt, dass "2020 nie wieder kommen wird". Damals sei das Virus auf eine immunologisch unvorbereitete Bevölkerung gestoßen, das sei heute nicht mehr der Fall. "Wir haben eine breite Grundimmunisierung und auch eine große Anzahl an Genesenen", sagt der ÖVP-Gesundheitssprecher.

Das ist auch vonseiten der Regierung zu hören: Ein neuerlicher Lockdown gilt dort als gänzlich unwahrscheinlich. Selbst eine Wiedereinführung der Maskenpflicht steht aktuell nicht an. "Die Corona-Gefahr war schon deutlich größer", heißt es aus einem Ministerium. "Inzwischen gehört das Virus einfach dazu. Wir befinden uns in der Übergangsphase zur Endemie."

Das größte Problem würde ein schwer belastetes Gesundheitssystem darstellen, sind die meisten in der Regierung überzeugt. Nowotny hält fest: Auch wenn die Belegung der Spitalsstationen und Intensivabteilungen nicht mehr dramatisch ausfallen würde, könnten sich dennoch durch den zu erwartenden krankheitsbedingten Ausfall von Personal etliche Probleme ergeben.

4. Fazit

Die Herbstwelle ist noch nicht vorbei. Im Gegenteil: Die Zahlen werden wieder steigen. Und das ist nahezu unabhängig davon, ob es wieder verschärfte Corona-Maßnahmen geben wird oder nicht, glauben Expertinnen und Expertinnen. Die neuen Varianten können den Immunschutz immer besser umgehen, somit "erwischt" es die allermeisten ohnehin früher oder später. Das bedeutet auch: Schärfere Maßnahmen können eine Infektionswelle wohl nicht mehr brechen oder beenden, sondern lediglich zeitlich nach hinten verschieben. In der Regierung werden harte Maßnahmen wie ein neuerlicher Lockdown aber ohnehin nahezu ausgeschlossen. (1.11.2022, Katharina Mittelstaedt, Walter Müller, Magdalena Pötsch)