"Ich verbrachte die Nacht in einem Mantel auf dem getrockneten Gras. Ich schaffte es, fünf Stunden zu schlafen", sagte der junge Russe am Grenzübergang zum Nachbarland Kasachstan. Die Autoschlangen an der Grenze waren im Zuge der mittlerweile für beendet erklärten Teilmobilmachung endlos lang, Zigtausende junger Russen flohen vor einer möglichen Einberufung zum Militär. "Sie übernachten in der Steppe, leben in Autos – und sind bereit, ihr letztes Geld auszugeben, um nicht in den Krieg zu ziehen", berichtete das Onlineportal "Medusa". Rund 200.000 flüchtige Reservisten aus Russland haben die Grenze bereits passiert, viele wollen bleiben.

Sehr zum Missfallen des Kreml sind sie im Land durchaus erwünscht. Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew begrüßte die Flüchtlinge herzlich: "In den letzten Tagen kamen viele Menschen aus Russland zu uns. Die meisten von ihnen sind aufgrund der derzeitigen aussichtslosen Lage gezwungen, das Land zu verlassen. Wir müssen uns um sie kümmern und für ihre Sicherheit sorgen."

Multiple Konfliktpunkte

In Kasachstan versucht Präsident Tokajew einen heiklen Spagat zwischen dem Westen und Russland. Rhetorisch dient sich der Präsident derzeit vor allem dem Westen an. Als Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Petersburger Wirtschaftsforum seine Gebietsansprüche geltend machte, verkündete Tokajew, sein Land würde niemals die Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk anerkennen.

Präsident Tokajew bei einer Partie Tischtennis mit seinem türkischen Pendant Erdoğan.
Foto: Press service of the President of Kazakhstan/Handout

Auf der UN-Generalversammlung im September enthielt sich Kasachstan bei der Abstimmung zur Frage, ob der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch per Videokonferenz das Rederecht erhalten könne. Jüngster Zankapfel: Russland fordert, dass der ukrainische Botschafter in Kasachstan des Landes verwiesen wird. Das wiederum lehnte das kasachische Außenministerium ab. Der Streit eskalierte, der kasachische Botschafter in Moskau wurde einberufen. Die Situation sei "inakzeptabel", berichtet die russische Nachrichtenagentur Tass.

Andererseits sagte Tokajew – Präsident einer Ex-Sowjetrepublik, die ganz gewiss zum russischen Einflussbereich gehört – in einer Rede vor Bürgern der Stadt Schymkent, Kasachstan werde alle Anstrengungen unternehmen, um die Verbündetenbeziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten. Aber auch die Partnerschaft mit der Europäischen Union stehe im Vordergrund, fügte er hinzu.

Russische Truppen gegen Regierungsumsturz

Trotz aller Liebäugelei mit dem Westen: Noch steht Kasachstan an der Seite Russlands. Zur Befriedung der Unruhen im Machtkampf zwischen Anhängern des früheren kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew und seinem Nachfolger Tokajew schickte Russland im Jänner Truppen, die nach dem Ende der Unruhen wieder abzogen. Tokajew blieb Präsident.

Russische "Friedenstruppen" in Kasachstan im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit.
Foto: EPA/STR

Wirtschaftlich allerdings will Kasachstan von Russland und auch vom Westen profitieren. Das Land hat viele Rohstoffe, Öl, Gas und seltene Erden. 80 Prozent des in Kasachstan geförderten Rohöls aus dem gigantischen Tengis-Ölfeld werden über eine Pipeline in die südrussische Hafenstadt Noworossijsk gepumpt. Kasachstan selbst hat keinen Zugang zu den Weltmeeren. In Zukunft soll Öl aus Kasachstan auch auf direktem Weg in den Westen fließen. Eine Pipeline durch das Kaspische Meer soll gebaut werden, kasachisches Öl könnte dann via Aserbaidschan unter Umgehung Russlands in Richtung Westen gelangen.

Kasachstan hat nicht nur Öl. Das Land verfügt auch über die zweitgrößten Uranreserven der Erde und liefert bereits heute 40 Prozent des weltweit benötigten Roh-Urans. Begehrt im energiehungrigen Westen, wo über die Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken nachgedacht wird.

Neue Möglichkeiten

Nicht nur vom Braindrain junger, vielfach gut ausgebildeter Russen profitiert die kasachische Volkswirtschaft. Experten sind der Auffassung, dass sich auch durch die westlichen Sanktionen neue Möglichkeiten auftun. "Es ist durchaus zu erwarten, dass Kasachstan zu einer Art Transitland wird, um Sanktionen für Lieferungen in die Russische Föderation zu umgehen", sagt der Wirtschaftsexperte Andrey Grozin. Kasachstan hat sich den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen, man wolle russischen Unternehmen nicht direkt helfen, aber das Land nehme eine "etwas neutralere Position" ein, erklärte Präsident Tokajew.

Zudem will man westliche Firmen, die Russland verlassen haben, ansiedeln. "Die Regierung sollte günstige Bedingungen für ihre Umsiedlung nach Kasachstan schaffen", zitiert die Nachrichtenagentur Ria Novosti den kasachischen Präsidenten. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes ist auch das politische Schicksal von Tokajew eng verknüpft. Am 20. November wird in Kasachstan gewählt. Tokajew will wieder antreten. (Jo Angerer, 1.11.2022)