Inspektion eines Getreideschiffes am Bosporus. Damit Frachter von und zur Ukraine fahren dürfen, müssen sie einem internationalen Team nachweisen, dass sie nur deklarierte Ware geladen haben.

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Recep Tayyip Erdoğan sieht sich "im Dienste der Menschheit". Und für einmal mag der türkische Präsident damit sogar recht haben. Ankara, die UN und die Ukraine haben in der Nacht auf Montag beschlossen, die Exporte von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer fortzusetzen – obwohl Russland sich am Wochenende aus dem Abkommen, das die Transporte trotz des Ukraine-Krieges ermöglichen sollte, zurückgezogen hat.

Erdoğan lobte dabei auch die Erfolge des bisherigen Abkommens, die dazu beigetragen hätten, den globalen Hunger zu lindern. Genau das hatte Russland – wie die Ukraine auch selbst wichtiger Getreideexporteur – ja stets infrage gestellt. Immer wieder hatte auch Präsident Wladimir Putin gesagt, es komme kaum etwas von den Exporten tatsächlich bedürftigen Ländern zugute.

Dass das so stimmt, legen die Statistiken aber nicht nahe. Und die sind, ungewöhnlich für eine derartige Übereinkunft, ziemlich transparent und auch übersichtlich ausgearbeitet. Die Uno veröffentlicht die Daten auf einer eigenen Homepage. Dieser ist zu entnehmen, dass der größte Teil der Lieferungen tatsächlich an Spanien und der drittgrößte an Italien ging. Die beiden großen EU-Staaten haben zusammen etwa ein Viertel der ausgeführten Getreidelieferungen in Empfang genommen. Außerdem ist der Liste zu entnehmen, dass auch die Türkei zwar womöglich "im Dienste der Menschheit" handeln mag, durchaus aber auch im eigenen: Ankara ist der zweitgrößte Empfänger und hat mit 1,3 Millionen Tonnen etwas mehr als ein Zehntel aller Ausfuhren erhalten.

Es geht um den Preis

Allerdings: Die von Putin mehrfach aufgestellte Behauptung, dass fast gar kein Getreide in ärmeren Ländern angekommen sei, lässt sich nicht halten. 1,8 Millionen Tonnen (oder etwa 20 Prozent) gingen an Afghanistan, Bangladesch, Dschibuti, Ägypten, Äthiopien, Indonesien, den Iran und den Irak, Kenia, Libyen, Pakistan, Somalia, den Sudan, Vietnam und den Jemen. Mehr als eine weitere Million Tonnen ging an die beiden Staaten China und Indien, die zwar wirtschaftliche Schwergewichte sind, im Inneren aber durchaus noch größere Gruppen zu versorgen haben, die sich in relativer oder auch absoluter Armut befinden.

Die ganze Diskussion täuscht aber ohnehin über einen wichtigeren Aspekt hinweg. Denn beim Getreidedeal ging es ja keineswegs darum, dass alles aus der Ukraine gelieferte Getreide auch an arme Staaten geht. Sondern es geht darum, dass insgesamt mehr Getreide auf dem Markt ist, damit die Preise, die arme Staaten für Grundnahrungsmittel zahlen müssen, nicht explodieren. Und das hat das Abkommen vermutlich erreicht.

Ein Beispiel ist der Weizenpreis. Dieser fiel zwar bereits vor Abschluss des Deals Mitte Juli und ist seither weitgehend stabil. Allerdings heißt das umgekehrt auch, dass er nicht massiv gestiegen ist – wovon bei einer weiteren Verknappung wohl auszugehen gewesen wäre. Der von der Uno errechnete FAO-Index, der Weltpreise für Nahrungsmittel zusammenrechnet, zeigt überhaupt einen massiven und bleibenden Abfall im Juli. Weiteres Indiz: Als Russland am Wochenende ankündigte, sich aus dem Deal zurückzuziehen, sind die Preise für Weizen um fünf Prozent gestiegen.

Stichhaltige Gründe?

Sind aber nun zumindest die unmittelbaren Gründe, die Russland für seinen Ausstieg nennt, stichhaltig? Moskau nennt als Anlass für seinen Rückzug den angeblich ukrainischen Drohnenangriff auf Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte nahe Sewastopol auf der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim. Die Sicherheit der Transporte, die gemäß Abkommen von der Ukraine garantiert werden müssen, sei nicht mehr gewährleistet. Allerdings: Die Angriffe, für die Kiew bisher keine Verantwortung übernommen hat und deren genaues Ausmaß noch immer unklar ist, haben sich in einiger Entfernung zu jenem Korridor abgespielt, den die Getreideschiffe passieren müssen. Zudem nutzt auch Russland selbst seine Schwarzmeerflotte für Angriffe auf die Ukraine.

Darüber hinaus scheint offen, inwieweit derartige Angriffe mit dem Abkommen in Konflikt stehen. Denn dass von den Schiffen selbst weder für Russland noch für die Ukraine eine Gefahr ausgeht, das garantieren ganz andere Mechanismen. Die Frachter müssen auf dem Weg zur und von der Ukraine in der Türkei haltmachen und ihre Ladung dort von einem gemeinsamen Team aus allen Unterzeichnerstaaten – also auch Russland – und der Uno untersuchen lassen. So soll sichergestellt werden, dass die Schiffe nur Getreide liefern und nicht auch andere Güter oder gar Rüstungsmaterial. Diese Inspektionen sind bisher keiner Kritik ausgesetzt – man kann also davon ausgehen, dass alle bisherigen Teilnehmer, auch Moskau, nichts an diesen Abläufen auszusetzen hatten. (Manuel Escher, 31.10.2022)