Daniele Gatti während eines seltenen Gefühlsausbruchs.

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Kaum zu glauben, dass in dieser Stadt, in diesem Gebäude, ja in diesem Saal einst Glaubenskriege ausgefochten wurden zwischen den Anhängern der beiden Komponisten, deren Werke beim Gastspiel des Gewandhausorchesters Leipzig im Musikverein einträchtig nacheinander gespielt wurden: Johannes Brahms und Anton Bruckner. So heilt die Zeit nicht alle, aber doch zumindest manche Wunden.

Mit Brahms' Violinkonzert, wie Bruckners vierte Symphonie in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre entstanden, wurde eröffnet. Die Orchestereinleitung des Kopfsatzes erinnerte bei Daniele Gatti in ihrer recht freien Deutung an eine romantische Tondichtung; dann stieg Solist Frank Peter Zimmermann nach dem ruppigen Moll-Thema streng und hochfahrend in die musikalische Erzählung ein, um sich dann von Takt zu Takt wieder zu beruhigen. Das balsamische Hauptthema des Kopfsatzes präsentierte der Deutsche schlicht, schön und klar.

Ob widerborstige Erregung oder fahle Angststimmung, ob zackiger Furor oder fein ziselierte Freude: Zimmermann zeichnete das Panorama der Gefühlslagen detailgenau und prägnant nach. Die von ihm gespielte Stradivari hat einen nicht allzu voluminösen, aber fokussierten, sonnenhellen Klang: Wie Goldfäden leuchteten die melodischen Linien des Solisten aus dem weichen Gewebe des Orchesterparts heraus. Und obwohl im Spiel des 57-Jährigen minimale Irritationen in Sachen Intonation zu bemerken waren: Es war eine fulminante Interpretation, die im Großen Musikvereinssaal begeisterte Zustimmung hervorrief. Zimmermann gab die Fuge aus Bachs g-Moll-Solosonate mit überschießender Verve als Zugabe.

Kammermusikalisches Agieren, vogelschwarmhafte Autonomie

Dann der Brahms. Daniele Gatti, das muss man hier vorausschicken, ist ein Dirigent, der in sich ruht und die gestische Anleitung des Orchesters gern auf ein Minimum reduziert. Oft macht der Italiener einfach gar nichts. Sogar ein groß angelegtes Crescendo (wie zum Beispiel jenes zum finalen Höhepunkt) lässt der designierte Chef der Sächsischen Staatskapelle Dresden erst einmal ohne persönliches Zutun wie von selbst wachsen, aus dem Kollektiv des Orchesters heraus. Die Leipziger zeichnete denn auch ein kammermusikalisches Agieren aus, eine vogelschwarmhafte Autonomie. Die Hörner fanden im Jagd-Scherzo im Kollektiv zu jener Sicherheit, die sie in den beiden vorangegangenen Sätzen bei den solistischen Passagen vermissen ließen.

Die luxuriöse Klangpracht, mit der das Orchester die Vierte am Sonntagabend insgesamt vor Ohren führte, war beeindruckend; selbst die bedrohlichen Unisono-Proklamationen im vierten Satz wurden weich, rund und abgefedert präsentiert. Gatti präferierte eine kantable, elastische Erzählweise in einem sämigen Ton, der ganz auf lukullischen Genuss abzielte. Sein Bruckner war so detailgenau gearbeitet wie jener von Christian Thielemann, der durch seine akribische, invasive, possessive Führungsart den dämonischen Aspekten in Bruckners Werk mitunter mehr Biss verleiht.

Obwohl: Die blockhafte, auf extreme Gegensätzlichkeit abzielende Deutung von Bruckner-Symfonien, martialisches Allmachtsgeknatter mit einschließend, ist in den letzten Jahren so selten geworden wie Opernneuinszenierungen, die das Werk in der Zeit ansiedeln, die Komponist und Librettist dafür festgelegt haben. Kollektiver Jubel im Musikverein für eine Meisterleistung. (Stefan Ender, 31.10.2022)