Wir befinden uns im frühen siebten Jahrhundert. In der kleinasiatischen Metropole Ephesos blüht das alltägliche Leben – bis zu einem folgenschweren Tag, wohl im Jahr 615. Dies lässt sich jedenfalls aus den Forschungsergebnissen der diesjährigen Grabungssaison des Österreichischen Archäologischen Instituts (ÖAI) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ableiten.
Das heimische Forschungsteam legte unter der Leitung von ÖAI-Direktorin Sabine Ladstätter nahe dem römischen Stadtzentrum einen Komplex aus Geschäften und Lokalen frei, die bei einer Brandkatastrophe zerstört wurden. Ihr gesamtes Inventar wurde für mehr als 1400 Jahre unter einer dicken Brandschicht versiegelt.
Reich in der Krise
Zuvor hat Ephesos in den vergangenen eineinhalb Jahrtausenden seiner Geschichte die unterschiedlichsten Herrschaftsverhältnisse gesehen: Unter anderem Griechen, Perser und Römer hatten das Sagen. Nun ist die Stadt Teil des byzantinischen Reiches, das sich gerade in einer veritablen Krise befindet. In Konstantinopel herrscht seit dem Jahr 610 Heraclius über die Rhomäer, die sich als die verbliebenen Erben des römischen Reiches verstehen. Heraclius’ gleichnamiger Vater war der Exarch von Karthago gewesen, also der kaiserliche Statthalter im fernen Nordafrika.
Die Familie nutzte ihre Macht, um sich mit oppositionellen Kräften in der Hauptstadt Konstantinopel zu verbünden und den seit 602 regierenden Kaiser Phocas zu stürzen. Dieser hatte als Centurio das Kaiseramt usurpiert und seinen Vorgänger Mauricius Tiberius und die kaiserlichen Familienangehörigen ermordet. Mit brutaler Gewalt hatte Phocas sich des Kaiserthrons bemächtigt, und ebenso wurde er wieder von diesem entfernt.
Nun ist es an Heraclius, dass dieses traditionelle Spiel, das schon in der Vergangenheit das römische Reich regelmäßig in chaotische Zustände stürzte, nicht wieder zur Norm des Machtwechsels wird. Die innere Ruhe im Reich kann es jedoch nur geben, wenn die äußere Sicherheit garantiert ist. Doch hier sieht es schlecht für die Rhomäer aus: Die Sasaniden sind seit Jahrhunderten der Erbfeind des römischen Reiches im Osten und sie befinden sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Zu Mauricius pflegt der sasanidische Großkönig Chosrau II. zwar gute Beziehungen – schließlich hatte ihm ausgerechnet der Kaiser nach einer Rebellion bei der Wiedererlangung des Thrones geholfen. Den Sturz Mauricius’ nutzt Chosrau jedoch umgehend für einen Rachefeldzug gegen Phocas.
Heiliges Kreuz entführt
Heraclius übernimmt daher mit dem Kaiserthron auch diesen Krieg, und er muss eine Reihe bitterer Niederlagen hinnehmen. Syrien und Ägypten gehen verloren, und aus dem im Juli 614 eroberten Jerusalem wird die Reliquie des Heiligen Kreuzes, das drei Jahrhunderte zuvor von Helena entdeckt worden sein soll, in die sasanidische Hauptstadt Ktesiphon gebracht. Und auch Kleinasien wird zum Ziel von Angriffen – bisher war jedoch deren Zeitpunkt und Ausmaß unklar.
Dank der umfangreichen und perfekt erhaltenen neuen Funde lässt sich dieses Kapitel der Geschichte nun neu beurteilen. Deren Aufarbeitung wird das Team aus dem Archäologen Helmut Schwaiger, dem Numismatiker Nikolaus Schindel, dem Archäozoologen Alfred Galik und dem Archäobotaniker Andreas G. Heiss noch geraume Zeit beschäftigen. Angesichts der archäologischen Schätze habe sich das Grabungsteam des öfteren an Howard Carters Worte erinnert, als dieser einen ersten Blick auf die Schatzkammer Tutanchamuns werfen konnte: "Ich sehe wunderbare Dinge" gilt auch für Ephesos, sagt Ladstätter. Für die Wissenschaft bietet sich ein solches Fenster in die Vergangenheit nur selten.
Christliches Zentrum
Das freigelegte Areal liegt auf dem Domitiansplatz an der Kuretenstraße. Der einst repräsentative Platz ist in der frühbyzantinischen Spätantike längst zum Teil überbaut: ineinander verschachtelt haben sich hier Werkstätten, Tabernen und Geschäfte angesiedelt. Sie leben vom Tourismus, bei ihrer Kundschaft handelt es sich um christliche Pilger. Der legendäre Tempel der Artemis – eines der sieben Weltwunder – war schon im Jahr 268 von den Goten zerstört worden, und in den folgenden Jahrzehnten verdrängte das Christentum die paganen Kulte wie im ganzen Reich auch in Ephesos.
Hier hatte der neue Monotheismus schon sehr früh Fuß gefasst, Paulus hielt sich ebenso in der Stadt auf wie der Apostel Johannes. Über dessen Grab nahe der heutigen Stadt Selçuk ließ Kaiser Justinian die Johannesbasilika errichten – eine der größten Kirchen im byzantinischen Reich.
Für Ephesos ist damit die Kontinuität als Wallfahrtsort garantiert. Während in heidnischen Zeiten der Apostelgeschichte zufolge silberne Tempelmodelle an die Besucher der Tempelanlagen verkauft wurden, warten in dem kleinen Laden in einem Korb gleich neben dem Eingang hunderte Tonfläschchen auf Pilger mit locker sitzendem Geldbeutel. Die irdenen Flakons sind dazu gedacht, als Amulett um den Hals getragen zu werden.
In ihnen soll etwas ganz Besonderes aufbewahrt werden: Die Legende besagt, dass Johannes gar nicht gestorben ist, sondern nur schläft. Dabei dürfte er ziemlich intensiv träumen, denn er wirbelt mit seinem Atem Staub auf – dieser wird von den Priestern gesammelt und an die Gläubigen verteilt. Von den Archäologen wurde dies in der Praxis getestet: Die Fläschchen tragen sich mit rund einem Gramm Erde als Inhalt besser als im leeren Zustand, erzählt Ladstätter.
Speis und Trank in der Taberne
Auch zahllose Öllampen stehen in dem Laden für Käufer bereit. Nebenan werden die Pilger in einer Taberne verköstigt: Für sie gibt es eine große Zahl von Krügen und Trinkbechern in Normgrößen. Die zur Taberne gehörige Garküche verfügt über einen gut gefüllten Lagerraum. Hier werden Mandeln, Pfirsiche und Oliven ebenso verarbeitet wie Hülsenfrüchte und Erbsen.
Auch Surf and Turf gibt es im Angebot: in Amphoren aus Afrika lagern eingepökelte Fische, Rindfleisch ist ebenfalls vorhanden. "Arbeit für die nächsten zweihundert Jahre", war der erste Eindruck Galiks. Eine fünfstellige Zahl von Fischknochen hat der Archäozoologe vermessen und katalogisiert.
Diese stammen hauptsächlich von zwei Fischarten: mindestens achtzig Makrelen und 45 atlantische Bonitos, rechnet Galik vor. Die Fische entsprachen alle einer Normgröße von 30 bis 35 respektive 40 bis 45 Zentimetern. Unter den Rinderknochen finden sich sehr viele Schädelteile "von sehr alten Rindviechern", sagt Galik. Sie wurden wohl lange ausgekocht und als "Kopffleischsuppe" angeboten.
Hunderte Münzen
Bezahlt wird von den Besuchern üblicherweise mit Bronzemünzen in verschiedenen Nominalen. Mehrere hundert Münzen haben die Archäologen in dem Geschäftsareal entdeckt, die jüngste stammt aus dem fünften Regierungsjahr Heraclius’. Rund 520 der Münzen stellen eine zusammengehörige Summe Geldes dar, erklärt Schindel. Dazu wurden auch fünf Goldmünzen entdeckt, vier dieser Solidi im Zusammenhang, wohl als Inhalt einer Börse.
Die Interpretation ist schwierig. Ob es sich dabei um Erspartes handelt oder um die Geschäftskasse? Jedenfalls hat der Eigentümer sein Vermögen nicht als Hort versteckt, die Münzen wurden vielmehr in einem Teil des Lagerraumes verstreut, vermutlich beim Einsturz eines Regales. Münzen Phocas’ kommen in dem Konvolut interessanterweise doppelt so oft vor wie jene des Heraclius.
Bei einem vergleichbaren, auf denselben Zeitpunkt datierten Schatzfund aus der Stadt Sardes stammten von 216 Münzen des Hortes rund zweihundert von Heraclius, während frühere Kaiser nur schwach vertreten sind.
Folgenreicher Krieg
Der Einfall der Sasaniden in Kleinasien war offenbar dramatischer als bisher geglaubt und brachte das byzantinische Reich kurzzeitig ins Wanken. Die sasanidische Kriegsführung war auf die Zerstörung der Infrastruktur und Lebensgrundlagen der Bevölkerung ausgelegt. Menschen wurden massenweise verschleppt, berichten zeitgenössische Autoren.
Dass unter dem Schutt des Geschäftsviertels niemand nach den wertvollen Gütern gesucht hat, bedeutet wohl, dass dies den Eigentümern nicht mehr möglich war. Die verbliebene Bevölkerung zog sich in der Folge hinter eine Stadtmauer in die Hafengegend im Westen von Ephesos zurück, die frühere Bedeutung erreichte die Stadt nie wieder.
Die Sasaniden konnten ihre Erfolge nicht auf Dauer behaupten. Nach 622 kehrte der militärische Erfolg auf die Seite der Byzantiner zurück, unter Chosraus Nachfolger Kawad II. wurde 628 ein Friedensschluss erreicht. Der lange Krieg hatte jedoch beide Seiten ausgelaugt, der beginnenden islamischen Expansion konnte kaum etwas entgegengesetzt werden. 651 fiel das Sasanidenreich, und die Byzantiner verloren den Großteil ihrer Provinzen an die Araber. (Michael Vosatka, 3.11.2022)