Bisher ist unklar, wie die Spiralenkampagne über Jahrzehnte lang unter dem Radar der Grönländer:innen bleiben konnte.

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Um in die Schule gehen zu können, musste die Inuit-Grönländerin Hedvik Frederiksen ihr kleines Dorf namens Arsuk verlassen. Sie wurde in der nächstgelegenen Stadt Paamiut im Südwesten des Landes ins Internat geschickt. An einem Schultag im Jahr 1974, als Frederiksen 14 Jahre alt war, wurden die Mädchen aus ihrem Internat von der dänischen Verwalterin ohne Vorankündigung zum Arzt geschickt. "Ich erinnere mich nicht, dass irgendwer erwähnt hatte, was mit uns passieren würde", sagt Frederiksen im Gespräch mit dem STANDARD.

Im Krankenhaus wurden die 14- bis 15-Jährigen nach und nach ins Ärztezimmer gerufen. Als sie wieder herauskamen, sah Frederiksen ihren Schulkameradinnen an, dass sie Schmerzen hatten. Einige Mädchen hätten geweint, sagt die heute 62-Jährige. Als die Praxishelferin sie als Nächste aufrief, bekam Frederiksen Angst. Sie wurde aufgefordert ihre Beine in den gynäkologischen Behandlungsstuhl zu legen. "Ich kann mich noch erinnern, wie schmerzhaft es war. Sie hatten etwas in mich eingeführt, aber ich wusste nicht, was es war."

"Wir schämten uns und hatten Schmerzen"

Der Arzt, ein dänischer Mann, hat Frederiksen damals eine Verhütungsspirale eingesetzt. "In dem Moment war ich so schockiert, dass ich nichts sagen konnte. Ich dachte mir, ich muss es über mich ergehen lassen", sagt die Pensionistin unter Tränen. Niemand hatte den Mädchen oder ihren Eltern erzählt, dass ihnen Verhütungsspiralen eingesetzt wurden. Danach hätten die damals 14-Jährige und ihre Mitschülerinnen nicht über den Eingriff gesprochen – zu groß sei die Scham über das Erlebte gewesen. Sie erinnert sich an den traurigen Gang vom Krankenhaus zurück zum Internat. "Wir schämten uns und hatten Schmerzen."

Hedvik Frederiksen, als sie etwa 14 Jahre alt war.
Foto: Hedvik Frederiksen

"Ich wusste nicht, was eine Spirale war. Ich hatte davor nie Sex gehabt." Auch im Nachhinein erklärte den Mädchen keiner der Verantwortlichen, was mit ihnen geschehen war. Erst im Laufe ihrer Schulzeit sollte Frederiksen erfahren, dass ihr ein Verhütungsmittel eingesetzt worden war – ohne ihr Einverständnis. "Bevor ich die Spirale eingesetzt bekommen habe, war ich sehr ruhig und zufrieden", sagt Frederiksen. Nach dem Eingriff habe sie sich verändert.

Schmerzen sollten Frederiksen von nun an bei jeder Periode begleiten. Noch im Internat erzählte sie es ihrer Schwester und meinte, sie wolle wieder nach Hause. Doch die überzeugte sie zu bleiben. Also blieb Hedviksen und beendete die Schule und sprach nie über die Erlebnisse im Ärztezimmer. In der Schule hatte die Grönländerin keine Sexualkunde. Ihr sagte auch keiner, dass sie den Fremdkörper nach einer bestimmten Zeit entfernen sollte. Neun Jahre lang behielt sie ihn. Als sie mit 23 Jahren mit ihrem Mann ein Kind bekommen wollte, ließ sich Frederiksen die Spirale entfernen – von einem Arzt, der wieder kein Wort über das zu lange eingesetzte Verhütungsmittel verlor.

4.500 Spiralen

Mit 29 starb Frederiksen fast an Komplikationen durch eine Eileiterschwangerschaft. Bis heute ist die Inuit-Grönländerin fest davon überzeugt, dass diese mit dem jahrelangen Tragen der Spirale und einer damit einhergehenden Entzündung zusammenhing. Mit ihren Kindern sprach sie über das Erlebte und dachte, sie und ihre Mitschülerinnen seien Einzelfälle. Erst sie im Mai dieses Jahres einen Podcast des dänischen Rundfunks DR entdeckte, wurde Frederiksen bewusst, dass Mädchen und Frauen in ganz Grönland betroffen waren. Der massive Eingriff in die reproduktiven Rechte der Grönländerinnen wurde von Dänemark unter dem Namen "Spiralenkampagne" geführt.

"Man hat gezielt versucht, die Zahl der Grönländer zu senken", sagt Ebbe Volquardsen, außerordentlicher Professor für Kulturgeschichte an der Universität Grönlands in der Hauptstadt Nuuk. Ersten Erkenntnissen zufolge dauerte die Kampagne von etwa Mitte der 60er- bis Mitte der 70er-Jahre. Laut DR wurden in dieser Zeit etwa 4.500 Spiralen eingesetzt. Das entsprach damals ungefähr der Hälfte der Frauen im gebärfähigen Alter in Grönland.

Kontrolle der Geburtenrate

Die Maßnahme hing mit der kolonialen Vergangenheit Grönlands und Dänemarks zusammen. 1953 wurde die einstige Kolonie Grönland zur dänischen Provinz. Das dünnbesiedelte Gebiet sollte sich im Schnellverfahren in einen Teil des modernen dänischen Staates verwandeln. In einer Modernisierungswelle baute man in Grönland Schulen, Krankenhäuser und Wohnblöcke. Das einst vom Robbenfang und von traditioneller Kultur geprägte Leben der Grönländer:innen wurde auf den Kopf gestellt. "Man wollte in dieser Zeit aus Grönländern Dänen machen", sagt Volquardsen.

Infolge einer besseren Gesundheitsversorgung wuchs die Bevölkerung im Gebiet rasant. Darin sah die Regierung in Kopenhagen ein Problem. "Das wirtschaftliche Ziel der Dänen bestand darin, den wachsenden Bedarf an Investitionen in Grönland zu verringern", sagt Søren Rud, außerordentlicher Professor an der Universität Kopenhagen und Autor eines Buches über Grönland als dänische Kolonie.

"Ich glaube, das Ziel der Kampagne war es, so viele Verhütungsspiralen wie möglich zu installieren, wobei die Hauptzielgruppe wahrscheinlich sehr junge Frauen und Mädchen, unverheiratete Frauen, aber auch verheiratete Frauen mit vielen Kindern waren", sagt Rud. Die Zahl der Geburten sollte sinken. Volquardsen spricht von einem ethnischen Hintergrund: Die Kampagne war nicht auf Grönland beschränkt, sondern zielte auch auf Grönländerinnen in dänischen Schulen und Internaten ab.

In dem Podcast, der die Spiralenkampagne ans Licht brachte, sprach erstmals eine Frau öffentlich über ihre Erlebnisse. Die Psychologin Naja Lyberth war damals 13 Jahre alt und lebte in der Stadt Maniitsoq. Sie berichtete, dass die Geräte, die die Ärzte verwendet hatten, zu groß für ihren noch kindhaften Körper gewesen seien. "Es war, als hätte ich Messer in mir", wird Lyberth in der BBC zitiert. Ihre Geschichte sorgte für einen landesweiten Aufschrei. Mit einer Facebook-Gruppe verbündete sie sich mit den Opfern und Überlebenden der Kampagne, der auch Frederiksen beitrat.

Komplikationen nach Eingriff

"Ich wusste nicht, dass das so groß war", sagt Frederiksen. Für sie ist es eine Erleichterung, sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können. Viele würden nur in der privaten Gruppe über das Erlebte sprechen und nie an die Öffentlichkeit treten, meint Frederiksen. Unter den Betroffenen sieht sie sich trotz der anhaltenden Belastung unter den Glücklichen. "Ich habe Glück, da ich drei Kinder bekommen konnte", sagt die Frau, die inzwischen auch Großmutter ist. Auf Facebook sprechen laut Frederiksen andere Frauen davon, durch Komplikationen nach Einsetzen der Spirale keine Kinder bekommen zu können.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde ihnen die früher gebräuchliche Spirale der Art Lippes Loop eingesetzt. Die Plastikspiralen waren viel größer als heute und hatten eine S-Form. "Wir haben erlebt, dass Frauen aus anderen Gründen gekommen sind, und haben im Zusammenhang mit Untersuchungen wegen anderer Krankheiten gesehen, dass da eine Spirale war", sagte Aviaja Siegstad, Gynäkologin am Dronning-Ingrids-Krankenhaus in Nuuk, dem Sender KNR. "Es kam in den 90er- und Nullerjahren vor, dass Frauen kamen und sich fragten, wieso sie nicht schwanger werden konnten", sagt Siegstad.

"Ich fühlte mich machtlos"

Vielen Frauen sind laut KNR ohne ihr Wissen Spiralen nach Abtreibungen eingesetzt worden. KNR berichtet von der Inuit-Grönländerin Inge Thomassen, die mit 17 schwanger wurde. Ihre Eltern pochten auf eine Abtreibung, obwohl Thomassen das Kind behalten wollte. Im Jahr 1978 unterzog sie sich in Maniitsoq dem Eingriff. Thomassen litt danach an anhaltenden Unterleibsschmerzen. "Ich ging zum Arzt und wurde wieder nach Hause geschickt", sagt Thomassen im Gespräch mit KNR. Man habe ihr gesagt, dass alles in Ordnung sei. Danach begann sich ein Gedankte in Thomassen zur verfestigen: "Was, wenn ich mein einziges Kind, das ich haben könnte, entfernt habe?", wird Thomassen zitiert.

Inzwischen lebt sie in Kangerlussuaq. Sie und ihr Mann haben vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen, auch nach Entfernung der Spirale. "Ich fühlte mich machtlos", sagt Thomassen.

Beweggründe sind für Betroffene nicht bedeutend

Ende September kündigte der dänische Gesundheitsminister Magnus Heunicke eine Untersuchung der Kampagne an. Diese solle Aufschluss über die Entscheidungen hinter der Praxis liefern. Es ist auch unklar, wie die Spiralenkampagne so lange unter dem Radar der Öffentlichkeit bleiben konnte. 1985 sprach Grönlandminister Tom Høyem über die vermeintlich positiven Effekte der Eingriffe. Zuvor hatte Grönlandminister Arnold Christian Normann 1970 vor dem dänischen Parlament das Stagnieren der Geburtenrate durch den Einsatz von Spiralen gelobt.

Human Rights Greenland verlangt eine vollständige Aufklärung und Verantwortung für die Spiralenkampagne. "Es ist ein schwerwiegender Eingriff in die Rechte von Frauen und Mädchen sowie in die Rechte indigener Völker", sagt Tina Dam vom Human Rights Council in Grönland zum STANDARD. "Je nach Absicht der dänischen Behörden könnte dies als Völkermord eingestuft werden." Historiker Volquardsen stimmt dem zu, gibt jedoch zu bedenken: "Was tatsächlich die Beweggründe hinter dieser Kampagne waren, spielt aus grönländischer Sicht kaum eine Rolle. Ob böse oder wohlmeinende Absichten hinter diesen Maßnahmen stecken – die Konsequenzen sind in jedem Fall fatal."

Angesichts des geplanten Komitees hofft Frederiksen, dass sich die dänische Regierung entschuldigt. Die Ärzte, die den Mädchen die Spiralen eingesetzt haben, sind großteils verstorben und können nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Der dänische Staat aber schon. Im Rahmen der Ermittlungen hat sich Frederiksen vorgenommen, über ihre Erlebnisse vor dem Komitee auszusagen. Für den Eingriff will die Pensionistin eine Wiedergutmachungszahlung, wiederholt aber, dass ihr die Entschuldigung am wichtigsten sei. (Isadora Wallnöfer, 11.11.2022)