In seinem Bestseller Die Macht der Kränkung hat der Kriminalpsychiater Reinhard Haller 2015 eindringlich dargestellt, wie stark das Gefühl der Demütigung Menschen beeinflussen und zu furchtbaren Taten verleiten kann. Skrupellose Politiker wissen das schon lange: Wenn es ihnen gelingt, ein ganzes Volk davon zu überzeugen, dass es von anderen Ländern erniedrigt worden ist, können sie die eigene Macht im Inneren ausbauen und dann Aggressionen nach außen lenken.

Derzeit spielt Wladimir Putin auf dieser Klaviatur: Er sieht sich in einem Krieg mit dem Westen und begründet den Angriff auf die Ukraine vor allem mit den Demütigungen, die Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zugefügt worden seien.

Auch in der nationalistischen Ideologie von Xi Jinping stellt die Geschichte der Erniedrigung Chinas ein Leitmotiv dar. Diese reicht 180 Jahre zum Ersten Opiumkrieg zurück, durch den die Engländer Hongkong annektiert und die Öffnung der chinesischen Märkte erzwungen hatten. Er sieht es als seine Aufgabe an, die von den USA geführte Weltordnung zu demontieren und so China seinen rechtmäßigen Platz in der Welt zurückzugeben – beginnend mit der Rückgewinnung Taiwans.

Wladimir Putin und Xi Jinping begründen ihre Aggressionen mit der Erniedrigung ihrer Völker.
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Ebenso war die serbische Aggression in den Jugoslawienkriegen von nationalen Kränkungsmythen getrieben – von der Niederlage gegen die Osmanen in der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 bis zur Begrenzung der serbischen Dominanz in Titos Jugoslawien. Auch Mussolini und Hitler schürten und nutzten für die Machtergreifung den Zorn über Demütigungen, die ihren Ländern in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg angetan worden seien.

Die Gefühle der Russen

Dieses Narrativ wird oft nicht nur im eigenen Land, sondern auch im Ausland geglaubt. So wie der Westen einst Hitler lange gewähren ließ, fordern lautstarke Stimmen in Europa und den USA, dass man auf die Gefühle der Russen Rücksicht nehmen müsse, die durch die Arroganz der USA und die Erweiterung der Nato in ihrem Stolz verletzt worden seien. Und hätte nicht China das Recht, wieder als ebenbürtige Weltmacht anerkannt zu werden, die sich von den scheinheiligen Moralaposteln im Westen nichts sagen lassen muss?

Solche Meinungen fördern eine Appeasement-Politik, die brutalen Diktatoren in die Hände spielt. Und der Mythos der nationalen Kränkung befeuert den Revanchismus, seit Jahrhunderten eine Quelle von Konflikten und Kriegen.

Deshalb ist es wichtig, dass im europäischen Diskurs diesen Thesen entgegengetreten wird: Einzelne Menschen können erniedrigt werden und werden es auch allzu oft – ein Volk oder ein Staat aber nicht. Kein Russe hat unter dem Nato-Beitritt Polens und des Baltikums gelitten, keine Chinesin ist heute Opfer des Opiumkriegs oder des Taiwan-Besuchs der US-Kongresspräsidentin Nancy Pelosi. Verantwortungsvolle Politiker zählen nicht historische Demütigungen auf, sondern vermitteln in ihren Reden Visionen und Hoffnung. Selbst in früheren Kolonien, wo Demütigungen Teil des Systems waren, ist die Beschäftigung damit politisches Gift, das Autokratie und Korruption fördert.

Es ist Putin, der anständige Russen erniedrigt, und Xi, der China in einen Sklavenstaat verwandelt. Ihre Bürgerinnen und Bürger können sich gegen den Missbrauch der Geschichte schlecht wehren. Wir im Westen müssen es tun. (Eric Frey, 1.11.2022)