Seine Stimme gab Netanjahu Dienstagfrüh in Jerusalem ab.

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Israel erlebte bei den Wahlen am Dienstag einen deutlichen Rechtsruck. Die Likud-Partei unter dem Rechtskonservativen Benjamin Netanjahu konnte sich zwar nicht verbessern, dafür hat das rechtsextreme Bündnis unter Itamar Ben Gvir stark zugelegt: Laut Wahltagsumfragen konnte sich die antiarabische Liste mehr als verdoppeln, sie ist nun drittstärkste Partei. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Israel eine Regierung bekommt, die ausschließlich von jüdischen, rechtskonservativen bis rechtsradikalen und strengreligiösen Parteien dominiert wird. Araber wären darin nicht vertreten, Frauen stark unterrepräsentiert.

Auszählung über Nacht

Noch ist aber nichts fix – mittlerweile sind 97 Prozent der Stimmen ausgezählt. Laut israelischen Medienberichten kann das rechts-religiöse Bündnis um Netanjahu mit 65 der 120 Sitze im Parlament (Knesset) rechnen. Viele Israelis haben sich erst in letzter Sekunde entschieden, ob oder wen sie wählen wollen. Es zeichnet sich aber ab, dass die Rechtsextremen die stärksten Zugewinne von allen Parteien verbuchen konnten.

Der aktuelle Premierminister Jair Lapid von der Mitte-links-Partei Jesh Atid konnte zwar ebenfalls stark zulegen, das ging jedoch auf Kosten anderer Parteien aus dem Anti-Netanjahu-Lager. Dass Lapid eine neue Regierung bilden kann, ist unwahrscheinlich. Zudem zittern mehrere Kleinparteien aus seinem Lager noch um den Einzug ins Parlament, was seine Chancen, eine Netanjahu-Regierung zu blockieren, noch verringern würde. Obwohl viele Parteien eine Koalition mit Netanjahu dezidiert ausgeschlossen haben, dürfte sich nun eine Regierungsmehrheit ausgehen. Einige Parteien werfen ihm nämlich vor, dass er sein ganzes politisches Handeln nur seinen persönlichen Zwecken unterordnet – und sehen seine aktuelle Korruptionsanklage als Beweis dafür.

Dem früheren Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu könnte nach der Parlamentswahl ein Comeback gelingen. In der Wahlkampfzentrale spricht er nach Schließung der Wahllokale von "einem riesigen Vertrauensbeweis." Die Menge ruft: "Bibi, König Israels!"
DER STANDARD

Fünfte Wahl in vier Jahren

Es war das fünfte Mal in weniger als vier Jahren, dass die Israelis an die Wahlurnen gerufen wurden, und die Wahlbeteiligung war angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens der beiden Blöcke so hoch wie seit 20 Jahren nicht. Dass so oft gewählt wurde, liegt daran, dass keine der vergangenen Wahlen ein klares Ergebnis brachte. Zwar war Netanjahus Likud-Partei immer die stärkste Partei, doch fehlten ihr ausreichend Koalitionspartner für eine Mehrheitsregierung. Nach der letzten Wahl im März 2021 gelang überraschend dem Anti-Netanjahu-Lager unter Jair Lapid die Bildung einer Acht-Parteien-Koalition aus Linksparteien, Rechtsparteien und Arabern. Diese Regierung zerplatzte nach einem Jahr an ihrer hauchdünnen Mehrheit und an internen Querelen.

Ob Netanjahu jetzt die Regierungsbildung gelingt, hängt an einzelnen Parlamentssitzen. Sollte Netanjahu doch keine Regierung bilden können, dann steuert Israel in wenigen Monaten wohl auf Neuwahl Nummer sechs zu. Für den amtierenden Premierminister Jair Lapid würde das bedeuten, dass er bis auf weiteres Regierungschef bleibt, bis eine neue Regierung an die Macht kommt. Einfach wird es nicht, die Regierungsgeschäfte zu führen: Die Koalition hat seit Monaten keine Mehrheit mehr im Parlament. Wichtige Reformen drohen von den Oppositionsparteien abgeschmettert zu werden. (Maria Sterkl aus Jerusalem, red, 1.11.2022)